Gewohnheitsrecht

Gewohnheitsrecht

Gewohnheitsrecht (Jus consuetudinarium, Consuetudo, Mores majorum, Herkommen), das in dem Bewußtsein des Volkes od. einzelner Kreise desselben unmittelbar entstandene u. in seiner Sitte (Übung, Gewohnheit) zur Erscheinung gelangende Recht. Wenn nämlich die Überzeugung einer bestimmten Rechtsnorm im Volke so lebendig u. so allgemein herrscht, daß sie sich durch unzweideutige Handlungen u. freiwillige Befolgung zu erkennen gibt, so ist diese Norm dann nicht minder, als ein publicirtes Gesetz, als wirklich geltendes Recht zu betrachten, weil das Recht überhaupt nur auf der gemeinsamen Überzeugung der in rechtlicher Gemeinschaft Stehenden beruht, u. die unmittelbare Übung das Vorhandensein dieser gemeinsamen Überzeugung mit gleicher Stärke kund thut, als dies die von der Staatsgewalt ausgehende Gesetzgebung vermag. Nicht die bloße Übung, die Gewohnheit ist daher aber die Quelle des G-s, sondern der zu Grunde liegende Rechtssatz, u. die Gewohnheit bildet nur die äußere Erscheinungsform u. zugleich einen Beweis seiner Existenz. Daher lassen sich Rechtsgewohnheiten denken, welche von jeher im Volke gegolten u. sich gar nicht erst durch Gewöhnung gebildet haben. Eben so wenig kann das G. auf eine bloße Genehmigung der gesetzgebenden Gewalt im Staate zurückgeführt werden, wie sich schon daraus ergibt, daß das G. meist früher vorhanden ist, als die gesetzgebende Gewalt zu festerer Organisation gediehen ist. Das G. bildet daher neben dem Gesetz (s.d.) eine durchaus selbständige Entstechungsform des Rechtes, welche dem ersteren durchweg ebenbürtig ist. Es kann daher durch G. ein Gesetz ebenso abgeschafft werden, als umgekehrt auch das G. durch ein Gesetz beseitigt werden kann. Keinesfalls kann aber ein G. die Bildung des G-s selbst als eine Quelle des Rechts abschaffen. Eine allgemeine Erfahrung ist aber, daß, je ausgebildeter die Gesetzgebung eines Staates wird, um so seltener die Rechtsnormen unmittelbar aus dem Volke hervorgehen, u. daß damit das G. von selbst mehr u. mehr an Terrain verliert. Zum Beweise des G-s dienen, außer der wirklichen Übung (welche dabei als eine constante u. gleichförmig wiederholte u. von einer wirklichen Rechtsüberzeugung geleitete dargethan werden muß), vornehmlich die Zeugnisse glaubwürdiger u. sachverständiger Personen, welche für das Deutsche Recht bes. in den Aufzeichnungen der mittelalterlichen Rechtsbücher, in den Weisthümern u. den eidlichen Kundschaften der Schöffen etc. vorliegen, so wie auch zuweilen die im Munde des Volkes lebenden Rechtssprüchwörter (Rechtsparömien). Eine bestimmte Zeit, bis auf welche zurück das G. als schon bestehend darzuthun wäre, um gültig zu sein, ist eben so wenig vorgeschrieben, als es gerade auf eine bestimmte Anzahl von Handlungen ankommt, in denen dasselbe hervorgetreten sein muß. Nur sächsische Praxis ist es, daß man dabei den Ablauf der Verjährungsfrist für Erwerbung des Privateigenthums u.a. Rechte von 31 Jahren 6 Wochen 3 Tagen zu Grunde legt. Blos locale G-e müssen, wenn sie bestritten werden, dem Richter im Processe bewiesen werden. Nur eine Art des G-s ist der Gerichtsgebrauch. Vgl. Puchta, Das Gewohnheitsrecht, 1828–37, 2 Thle.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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