Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit

Wahrscheinlichkeit (Probabilitas), ist die Art des Fürwahrhaltens, welche sich auf einen Schluß aus nicht vollständig zureichenden Gründen stützt (Wahrscheinlichkeitsschluß), indem entweder aus einem nicht streng allgemeinen Obersatze geschlossen wird, od. bei dem Vorhandensein von Gründen sowohl für als gegen eine Annahme des Fürwahrhalten sich nach dem Übergewichte der ersteren über die letzteren richtet. Die erstere Art der W. nennt man die philosophische; es gehören zu ihr die Schlüsse nach unvollständiger Induction u. unvollständiger Analogie (s.d.). Jene schließt nach dem Satze: je mehr Dinge einer Art in gewissen Merkmalen übereinkommen, desto wahrscheinlicher ist die Annahme, daß die Übereinstimmung bei allen Dingen derselben Art stattfinde; die zweite nach dem Satze: in je mehren Merkmalen (Eigenschaften) mehre Dinge übereinstimmen, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie in allen übereinstimmen. Man betrachtet also hier die Vielheit der beobachteten Fälle als den Ausdruck einer allgemeinen Regel u. erlaubt sich diese Allgemeinheit vorauszusetzen, so lange die beobachteten Fälle nur für, nicht gegen sie sprechen. Die mathematische W. dagegen beruht darauf, daß sowohl die Fälle, welche für, als die, welche gegen eine Annahme sprechen, bekannt sind, u. daß unter der Voraussetzung dergleichen Möglichkeit aller Fälle die ersteren ein Übergewicht über die letzteren haben. Wo man die Zahl der Fälle u. ihr Verhältniß numerisch bestimmen kann, entsteht daraus die Möglichkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Ars conjectandi, Calcul des probabilités) sammt der in ihr begründeten Möglichkeit eines arithmetischen Ausdrucks für den Grad der W. Das Verhältniß der W., z.B. daß man auf den ersten Wurf mit einem Würfel eine bestimmte Anzahl Augen werfen werde, zu der, daß es nicht geschehen werde, ist 1:6, weil jeder Würfel sechs Seiten hat, u. das Auffallen der einen so gut möglich ist, wie das der andern; der Wahrscheinlichkeitsgrad dagegen, daß man mit zwei Würfeln einen bestimmten Pasch weisen werde, ist 1/36; der Wahrscheinlichkeitsgrad, daß man in einem Zahlenlotto von 90 Nummern bei fünf gezogenen Nummern eine Ambe gewinnen werde, ist 2/801 etc. Allgemein ausgedrückt: wenn m die Zahl der für, n die der gegen eine Annahme sprechenden Fälle, also m + n die Zahl aller überhaupt möglichen Fälle ist, so drückt der Bruch m/(m + n) den Wahrscheinlichkeitsgrad aus, der um so größer wird, je größer m, um so kleiner, je größer n wird. In vielen Fällen ist es nun nicht möglich, alle möglichen Fälle abzuzählen; aber je größer die Zahl der beobachteten Fälle überhaupt ist, desto wahrscheinlicher werden trotz der Unsicherheit, unter welchen Theil derselben der einzelne Fall gehören werde, die hierauf gegründeten Durchschnittsberechnungen sein, u. darin liegt die praktische Wichtigkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung bei Fertigung von Bevölkerungslisten, bei Sterblichkeitstabellen u. der Bestimmung der mittleren Lebensdauer, bei den Leibrenten u. Assecuranzen auf das Leben u. auf Sachen, bei Schätzung der Gültigkeit von Zeugnissen, der Richtigkeit von Urteilssprüchen, bei Entscheidungen nach der Stimmenmehrheit, bei Wahlen etc. Namentlich ist die W. auch auf die Berechnung der wahrscheinlichsten Resultate aus gegebenen Beobachtungen angewendet worden. Dies ist zuerst für die gesammten Naturwissenschaften, bes. die Astronomie, von Gaus geschehen, welcher durch Anwendung der von ihm zuerst entdeckten Methode der kleinsten Quadrate viel geleistet hat. Vgl. Gaus, Theoria combinationis observationum erroribus minimis obnoxiae, Gött. 1823; Supplementum theoriae combinat., ebd. 1828; Disquisito de elementis ellipticis Palladis, ebd. 1811; Paucker, Über die Anwendung der Methode der kleinen Quadratsumme auf physikalische Beobachtungen, Mitau 1819; Parisot, Traité du calcul conjectural, Par. 1810; Laplace, Philosophischer Versuch über die W. (deutsch von Tönnies, Heidelb. 1819); Lacroix, Traité élémentaire des probabilités, Par. 1816 (deutsch von Unger, Erfurt 1818); J. J. Littrow, Die Wahrscheinlichkeitsrechnung in ihrer Anwendung auf die Wissenschaft u. das Praktische Leben, Wien 1833; G. Hagen, Grundzüge der W., Beil. 1837; J. F. Fries, Versuch einer Kritik der Principien der W., Braunschw. 1842; Tetens Einleitung in die Berechnung der Leibrenten etc., Lpz. 1785; J. G. Meyer, Allgemeine Anleitung zur Berechnung der Leibrenten u. Anwartschaften, Kopenh. 1822 f.; Poisson, Lehrbuch der W. u. deren wichtigsten Anwendungen, deutsch von E. H. Schnuse, Braunschweig 1843. Die ästhetische W. besteht darin, daß das, was in einem Kunstwerk als geschehen dargestellt wird, den allgemeinen Bedingungen dieser bestimmten Art des Geschehens angemessen ist, also nach dem gewöhnlichen [757] Laufe der Ereignisse für wahrscheinlich gehalten werden kann. Für die Poesie, insofern sie menschliche Empfindungen u. Handlungen darstellt, ist diese ästhetische W. vorzugsweise eine psychologische.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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