- Voltigiren
Voltigiren, 1) (Pferdespringen), eine Hauptübungsart der heutigen Turnkunst, besteht vorwiegend in den regelrechten Springen auf u. über ein künstlich hergestelltes Pferd. In den ältesten Zeiten bildete das V. einen Theil der Reitkunst. Vegetius führt als Theil der altrömischen Militärgymnastik die Salitio in equos auf u. erzählt, daß nicht blos die Recruten, sondern auch die schon gedienten Reiter im Sommer im Freien, im Winter unter Schuppen an hölzernen Pferden allerlei Auf- u. Absprünge, selbst mit der Waffe in der Hand, zu üben hatten. Die deutschen Reiter verstanden schon zu Cäsars Zeit im Kampfe vom Pferde herab u. hinauf zu springen, u. vom Teutonenkönig Teutoboch wird erzählt, daß er über vier bis sechs, Pferde hinwegsprang. In der Blüthezeit des Ritterwesens trieb die Ritterjugend für den Zweck der Turniere u. der Kriegsführung allerlei Vorübungen an hölzernen od. auch an lebendigen Pferden. Nach dem Verfall der Turniere wurde die Voltigirkunst in Zunftform gebracht u. zu den sogenannten adeligen Exercitien gerechnet, mit deren Hülfe sich die Vornehmen Leibesübung verschafften. Guthsmuths u. Jahn nahmen die Schwingübungen am Pferd in das Ganze der deutschen Turnkunst auf u. bezeichneten sie als eine der vortrefflichsten Körpern düngen, weil es mehr als irgend eine andere die Muskelkraft u. Gelenkigkeit der oberen u. unteren Glieder vermehrt, sowie Augenmaß u. Muth ganz vorzüglich in Anspruch nimmt. So wurde das Voltigirpferd ein namentlich von den erwachsenen u. geübteren Turnern bes. bevorzugtes Turngeräth. Es wird dasselbe meist der mittleren natürlichen Pferdegröße aus Holz nachgebildet u. erhält Füße mit einem Holzeinschub, welcher durch Eisenbolzen od. stählerne Sprungfedern je nach dem Bedürfniß der Übenden höher od. tiefer zu stellen ist. Der Rücken dieses Turnschwingels ist meist horizontal; selten findet man solche mit aufsteigenden Hälsen. Das Ganze ist mit Lederpolster überzogen, um beim Anstoßen Verletzungen vorzubeugen. Die Schwingkunst theilt den Schwingelrücken in Hals, Sattelstelle u. Kreuz od. Kruppe. Die Sattelstelle ist durch zwei Pauschen abgegrenzt, zwei halbmondförmige u. zu einer bequemen Grifffläche vorgerichtete Holzeinsätze, welche sich 3–4 Zoll über den Pferderücken erheben u. gleichfalls gut abgerundet u. gepolstert sind. Sie dienen den Händen zur Stütze u. können eingesetzt od. weggenommen werden, da die Voltigirübungen ohne u. mit Pauschen getrieben werden. Unter Schwingen od. V. versteht man im Allgemeinen jene Springübung, bei welcher der Körper vermittelst eines Absprunges vom Boden aufgeschnellt wird, um ihm gleichzeitig od. unmittelbar darauf durch Stütz der Hände auf einen festen Gegenstand einen solchen Schwung zu geben, daß das Ziel des Sprunges mit Leichtigkeit erreicht wird. Dieses Händeaufsetzen, theils zur bestimmten Richtung, theils zur Erleichterung des Sprunges, gibt dem V. das Charakteristische u. zugleich das Stärkende u. Bildende, weil Arme, Hände u. Füße mit Geistesgegenwart zusammenwirken müssen. Man unterscheidet beim V. der Hauptsache nach Längen- u. Seitensprünge, je nachdem das Pferd der Breite od. Länge nach vor dem Übenden steht. Die verschiedenen Arten des Aufsitzens zum Sitz od. Schluß, Kehr-, Wende-, Flanken-, Schraubeaufsitzen, mit einer Menge von Vorübungen bilden die ersten Stufen des V-s, woran sich verschiedene Verbindungen (Geschwänge) u. die Arten des Absitzens anschließen. Den schwierigeren Theil bilden die Sprünge über das Pferd: Wende-, Kehr-, Flanken-, Hock-, Knie-, Grätschsprung, das Abfroschen, Drehkehre u. Drehwende, Doppelkehre, Riesen- u. Todtensprung etc. Wohl an 200 einzelne Übungen führt die Turnkunst unter dem Capitel Schwingübungen auf, welche zahlreicher Combinationen fähig sind. Gesellschaftssprünge können von Zweien od. Dreien gleichzeitig an einem Schwingel ausgeführt weiden; Fechtsprünge heißen diejenigen Springarten am Schwingel, wobei Absprung u. Stütz mit Nur einem Fuß u. einer Hand erfolgen. Übrigens wird V. auch als allgemeiner Ausdruck für die bezeichnete eigenthümliche Springweite gebraucht, auch wenn sie nicht am Schwingel, sondern an einem beliebigen anderen Gegenstände angewandt wird; z.B. an einer Barrière, an einem Tisch u. dgl. Man spricht z.B. auch vom Barren- u. Reckvoltigiren In vielen Turnanstalten ist zu diesem Zwecke auch der Sprungkasten im Gebrauche, ein gepolsterter Kasten in der Form eines länglichen Tisches, welcher ganz ähnlich wie der Schwingel benutzt wird. Als Vorschule zum V. dienen die Übungen am Springbock, welcher als ein verkürztes Pferd ohne Pauschen eigentlich nur die Sattelstelle derselben vertritt, ebenfalls höher u. tiefer gestellt werden kann u. namentlich zum Überspringen für Anfänger im Turnen dient. Auch m der modernen Militärgymnastik nehmen die Voltigirübungen eine hohe Stelle ein; die Voltigeurs (s.d. 3) der französischen Armee sind vorwiegend die gymnastisch durchgebildetsten Soldaten. Vgl. A. Doyle. Auslegung der Voltigirkunst; T. C. Tetzner, Katechismus der Voltigirkunst, Lpz. 1827; Neue Voltigirschule, Nordh. 1822; Seidler, Anleitung zum V., Berl. 1843; H. Rothstein, Anleitung zum Voltigirbock, ebd. 1854. 2) Das Springen über irgend einen Gegenstand, einen Stuhl, Tisch etc., mit Hülfe einer od. zwei Hände; 3) Bewegung beim Stoßfechten, s.u. Fechtkunst I. F).
Pierer's Lexicon. 1857–1865.