Wille [1]

Wille [1]

Wille (lat. Voluntas), 1) theils als allgemeiner Ausdruck für das Wollen (Voluntas), theils in der Bedeutung eines einzelnen bestimmten Willensactes (Volitio), bezeichnet dasjenige Begehren, mit welchem sich in dem Bewußtsein des Wollenden die Voraussetzung verbindet, daß er das Begehrte durch eigene Kraft erreichen könne. Zwar braucht der gewöhnliche Sprachgebrauch das Wort W. nicht immer in diesem bestimmten Sinn, sondern oft auch als gleichbedeutend mit dem allgemeinen Begriff des Begehrens, u. er hat dazu ein gewisses Recht, weil die verschiedenen Grade u. Abstufungen des Begehrens so allmälig in einander übergehen, daß in der Wirklichkeit ihre Grenzen sich nicht ganz scharf unterscheiden lassen; aber die Voraussetzung der Möglichkeit, das Begehrte durch eigene Kraft erreichen zu können, ist dennoch das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des eigentlichen Wollens von dem Wünschen u. Begehren. auch wo das letztere noch so heftig ist. Ein Kranker kann sehr lebhaft begehren gesund zu sein, ein Gefangener frei spazieren zu gehen, aber er kann es eigentlich eben so wenig wollen, als ein verständiger Mensch wollen wird eine Last von hundert Centnern aufzuheben. Hierin liegt einerseits, daß, wer will, wissen muß, was er will; ein durch ein Bewußtsein seines Inhalts nicht bestimmtes Begehren ist kein Wollen; wer nicht einmal weiß, was er will, der will eben nicht, trotz der Unruhe seines Begehrens; andererseits liegt darin die, auch durch die Erfahrung bestätigte Folgerung, daß der Mensch durch das Gelingen od. Mißlingen dessen, was er unternimmt, wollen lernt u. verlernt. Diejenige Bestimmtheit, Klarheit u. Zuversicht, durch welche aus dem manigfaltig angeregten Begehren sich ein Wollen entwickelt, beruht zum großen Theil auf der durch eigene Erfahrung erworbenen Ansicht von dem Verhältniß der eigenen Kraft zu dem, was begehrt wird. Das Nächste nämlich, was die Begehrung unternimmt, ist der Versuch; am gelungenen Versuch erstarkt das Wollen, wie es am mißlungenen erlahmt. Bei allem Begehren ist es die eigene, oft auch die durch andere Vorstellungen unterstützte [232] Kraft der im Bewußtsein sich aufarbeitenden Vorstellungen, deren Wirksamkeit dann als ein Begehren erscheint, wenn sie auf irgend ein Hinderniß ihrer vollständigen Entwickelungstoßen; in der Überwindung dieses Hindernisses liegt die Befriedigung der Begierde; u. die in der Erinnerung an frühere Befriedigungen, welche die Begehrung durch eigenes Handeln gefunden hat, liegende Verknüpfung u. Verwebung der Vorstellungen ist es, welche dem Begehren die Kraft des Wollens gibt. Die Vorstellung des zu erreichenden Gegenstandes ist der Zweck des Wollens; daher definirt Kant den W-n als das Vermögen sich Zwecke zusetzen u. für dieselben thätig zu sein; der vorgestellte Zweck ist zugleich das Motiv, der Beweggrund des Willens; daher dessen Zusammenhang mit der Überlegung; diese kann unsicher, schwankend, falsch u. thöricht sein, daher ein unsicheres, schwankendes, unverständiges, unvernünftiges Wollen; es können sich gleichzeitig mehre, vielleicht unter einander unvereinbare Zwecke dem Menschen aufdrängen; daher der Zweifel, die Schwierigkeit des Entschlusses, die Getheiltheit u. der Zwiespalt des Wollens gegenüber einer klaren u. ruhigen Selbstbestimmung, welche letztre eben die Entscheidung der überlegenden Wahl, der Entschluß ist. Die feste u. ausgeprägte Richtung u. Form, welche das Wollen des Menschen im Laufe des Lebens annimmt, bildet seinen Charakter, welcher sich nicht nur darin zeigt, was der Mensch will u. nicht will, sondern auch in der Art, wie er es will. So wie daher in der Gesammtheit seines Wollens sich das eigenste geistige Leben des Menschen zu erkennen gibt, so beruht auch auf der Beschaffenheit desselben u. des davon ausgehenden Thuns sein ganzer sittlicher Werth od. Unwerth, u. die allgemeine Bedingung der sittlichen Cultur ist daher die Bestimmbarkeit u. Bildsamkeit des Wollens, die Möglichkeit, daß die Motive, welche in den sittlichen Ideen liegen, die beharrlichsten u. mächtigsten für ihn werden. Über die theils hiermit, theils mit der Frage nach der Zurechnung von Schuld u. Verdienst des Menschen, Bestrafung u. Belohnung desselben zusammenhängenden Streitigkeiten über die Freiheit des Willens, s. Freiheit; über die dogmatische Lehre, daß der menschliche W. von Natur durchaus bös u. aus eigener Kraft zum Guten gänzlich unfähig sei, s. Erbsünde. 2) Der Wille Gottes (Voluntas dei), die Kraft Gottes, wornach er Alles, was überhaupt seiner Vollkommenheit entspricht, nach seinem Rathschluß zur Wirksamkeit werden lassen kann. In der ältern Dogmatik unterschied man den geheimen u. geoffenbarten W-n, den gewöhnlichen u. außerordentlichen W-n, den veranlassenden u. zulassenden W-n, den unbedingten u. bedingten W-n etc. Namentlich der geheime W. Gottes (Voluntas arcana. V. beneplaciti) in der protestantischen Dogmatik ist nach lutherischer Ansicht der W. Gottes, wo er etwas unbedingt erklärt, was nur bedingt zu verstehen ist, z.B. die Zerstörung der Stadt Ninive, wenn sie sich nicht bessert; od. der, nach welchem Gott zwar etwas beschlossen, aber solches noch nicht bekannt gemacht hat; nach der Ansicht der Reformirten der W., wo Gott so redet, als ob er etwas wirklich u. im Ernst wolle u. es doch eigentlich nicht will, z.B. daß Abraham seinen Sohn opfre; od. der, dessen Ursachen u. Zweck nur der Mensch nicht erkennt. Jedoch ist dieser Unterschied in Symbolischen Büchern der beiden Confessionen nicht scharf ausgeprägt u. hat in der Dogmatik keine Bedeutung mehr. Von dem Streite, ob Christus bei seinen verschiedenen Naturen einen od. zwei W-n gehabt habe, s.u. Monotheleten. Vgl. Feder, Untersuchungen über den menschlichen W-n, Lemgo 1779 f., 2 Thle.; Dessen Grundlehren zur Kenntniß des menschlichen W-ns, Gött. 1783, 2. Aufl. 1789; Abicht, Versuch einer kritischen Untersuchung über das Willensgeschäft, Frankf. a. M. 1788; Dessen Naturlehre der Erkenntniß-, Gefühls- u. Willenskraft, Erlang. 1795; Rätze, Was der W. des Menschen in moralischen u. göttlichen Dingen aus eigner Kraft vermag etc., Lpz. 1820. 3) Letzter W. (Ultima voluntas), eine einseitige Willensbestimmung über Rechtsgegenstände, welche erst noch dem Tode desjenigen, der sie gemacht hat, in die Wirksamkeit treten soll. Sie ist daher verschieden vom Erbvertrage, bei welchem wenigstens zwei Paciscenten sind u. die Erklärung des Einen von dem Andern angenommen wird. Da der letzte W. eine einseitige Disposition ist u. erst nach dem Tode desjenigen gilt, welcher sie gemacht hat, so ist er auch bis dahin nach freier Willkür widerruflich. Der letzte W. enthält entweder eine Erbeinsetzung, Testament (Testamentum, s.d.), od. eine andre Stiftung, Vermächtniß (Legat, Fideicommiß). Auch Servituten, Pfandrechte, Emphyteusen u. andere Arten dinglicher Rechte können durch den letzten W-n begründet werden.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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