Märchen

Märchen

Märchen (Diminutiv vom mittelhochdeutschen Maere, Erzählung), ist ursprünglich diejenige mündlich fortgepflanzte Erzählung, welche aus dem entschwindenden Mythus (s.d.) hervorgegangen ist. Die Gestalten der Mythologien der verschiedenen Völker behalten im M. zwar einen Theil ihrer göttlichen, übermenschlichen Macht, geben aber dafür jeden Anspruch auf historisches Dasein auf u. werden die Träger der Märchenwelt, die sich über die gemeine Wirklichkeit u. deren ursächlichen Zusammenhang hinwegsetzt, u. sich (im Unterschied von der Sage, s.d.) durchaus nur im Reiche der Phantasie bewegt. Im M., welches jeden geschichtlichen Anschein verschmäht u. gänzlich auf historische Glaubwürdigkeit verzichtet, werden Zeit, Ort u. Personen entweder gar nicht od. nur mit ganz allgemeinen Namen u. ganz phantastischen Bezeichnungen eingeführt, z.B. die kluge Else, der Berg Semsi, Aschenbrödel, Dornröschen; es schaltet ferner ganz nach Belieben über die ganze Welt, mit allen ihren Kräften, Gestalten u. Wesen, es darf die ganze Natur beleben, allen Wesen u. Dingen bis herab zum Strohhalm Vernunft u. Sprache leihen, sowie Spott, Laune u. Humor mit voller Freiheit der Phantasie walten lassen, wenn es sich auch andererseits meist in unschuldiger Einfalt u. Vertraulichkeit auf Vorführung der einfachsten Lebensverhältnisse zu beschränken pflegt. Bei allen Culturvölkern ist das M. erst sehr spät Gegenstand der Aufzeichnung geworden; indem es im Volke von Mund zu Mund wanderte, von Vater u. Mutter auf Sohn u. Tochter vererbte, mußte sich der ursprüngliche an die Mythe anknüpfende Inhalt eines M-s immer mehr abstumpfen, hier lückenhaft, doch aus andern ergänzt werden u. endlich in seinen Trümmern nur für das Auge des Forschers erkennbar bleiben. Sobald Aufklärung u. rein verständige Betrachtung im Volke überhandnehmen, erlischt die Schöpferkraft des letztern auf diesem Gebiete; gewöhnlich verfällt dann das M., das bis dahin Volksmärchen war, der Aufzeichnung od. die Kunstpoesie bemächtigt sich seiner kindlichen ansprechenden Form u. sucht ganz neue Gebilde der eignen Phantasie in das reizende Gewand zu kleiden.[859] Keine Nation entbehrt des Volksmärchens ganz u. gar; je phantasievoller dieselbe ist, desto reicher u. mannichfaltiger wird auch ihr Märchenschatz sein; so bei den Indern, Arabern, Griechen, Slawen, Celten, Deutschen. Von welthistorischer Bedeutsamkeit ist die indische Märchenpoesie geworden, da aus ihr einerseits die arabische Märchenpoesie hervorgegangen ist, die wieder ihren Einfluß auf die Literatur des abendländischen Mittelalters ausübte, während die Märchenstoffe durch den Buddhismus zu den von diesem bewältigten Völkern des östlichen u. hohen Asiens (Chinesen, Hinterindier, Tibeter, Mongolen etc.) gelangten. Die eigenthümlich phantastischen M. der Celten, namentlich der Kymren u. Bretonen (die Mabinogion), sind ebenfalls von höherm Interesse, da sie der höfischen Romantik des abendländischen Mittelalters passende Stoffe boten. In Deutschland, wo schon Herder auf die Bedeutung der Volksmärchen für die Geschichte der Poesie hinwies, haben die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- u. Hausmärchen (Berl. 1812, 10. Aufl. 1858), eine Sammlung geliefert u. die gegenwärtig herrschende Richtung auf historisch-philologische Studien u. das allerwärts Lebhafte Interesse an der eigenen Nationalität die Aufmerksamkeit überall auf die Aufzeichnung des im Munde des Volks noch umlaufenden Märchenschatzes gelenkt. Als ein besonderer Zweig der belletristischen Literatur trat die Märchenpoesie zuerst in Frankreich auf, wo schon gegen Ende des 17. Jahrh. Perrault (Contes de ma mère Oye) u. die Gräfin d'Aulnoy Sammlungen novellistisch verarbeiteter M. herausgegeben hatten. Durch Gallands bald darauf erschienene Übersetzung der arabischen M. der 1001 Nacht (s. Tausend und eine Nacht) nahm die Liebhaberei an dieser Art von Erzählungen so zu, daß sich seitdem dieser Literaturzweig dort in schnellem Wachsthum entwickelte. In Deutschland bestanden die ersten gedruckten M. nur in Übersetzungen aus dem Französischen. Außer der Verdeutschung der Mille et une nuits, die schon 1730 zu Leipzig erschien, kamen erst nach längerem Zwischenraume hinzu: das Cabinet der Feen (Nürnb. 1761 ff., 9 Thle.), die Märchen einer Amme (1754) u. die Romane u. Feyenmärchen (Glogau 1770, 5 Thle.), drei Sammlungen, die sämmtlich aus dem Französischen übersetzt waren u. den Namen der Feenmärchen in Aufnahme gebracht zu haben scheinen. Wieland, der in seinem Don Sylvio de Rosalva die Schwärmerei für die Feenmärchen verspottet hatte, kam später selbst auf ben Gedanken, einige der artigsten M. aus der großen Sammlung Cabinet des Fées (Amst. 1785–89, 41 Bde.) in seinen Dschinnistan od. auserlesene Feen- u. Geistermärchen (Winterthur 1786–89,3 Thle.) zu übersetzen u. eigene Ideen in Mörchenform auszuführen. Es hat sich für das M., das übrigens auch poetisch eingekleidet werden kann, eine eigene Art des Erzählungsstuls gebildet, die einerseits an das Novellistische streift, anderntheils die Naivetät u. Kindlichkeit des Volkstons beizubehalten sucht. Außer von den Gebrüdern Grimm besitzt man M. von Musäus, Tieck, Hauff, Goethe etc. Ziemlich reich ist auch die Literatur der sogenannten Kindermärchen, die eigens für das Fassungsvermögen kleiner Kinder erfunden sind, aber in pädagogischer Beziehung meist nur geringe, in literarischer gar keine Bedeutung haben. Über die Geschichte der europäischen Märchenliteratur vgl. Grimm, Kinder- u. Hausmärchen, 2. Aufl., Bd. 3., Berl. 1822.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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