- Talion
Talion (v. lat. Talio), die Vergeltung einer Übelthat durch Zufügung derselben Übelthat an den ersten Thäter. Der Gedanke, daß die Verübung einer solchen That das Recht gebe Gleiches mit Gleichem zu vergelten (Jus talionis), u. daß die Strafe für begangene Verbrechen in solcher Weise festzusetzen sei, findet sich in den Criminalbestimmungen aller Völker, ohne aber gerade zu einem festen System ausgebildet worden zu sein. Bei den Juden finden sich die Gründe der T. ausgesprochen in dem bekannten Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule (2. Mose 21, 22 ff., 5. Mos. 19, 19). Auch bei den Griechen zeigt sich die T. in der Verbreitung der Blutrache, u. die Pythagoreischen Philosophen erhoben dieselbe zum obersten Grundsatze ihrer gesammten Lehre von der Strafe. Bei den Römern gestatteten die Zwölf Tafeln das Jus talionis, bei schweren Körperverletzungen (Membrum ruptum), wenn nicht der Thäter mit dem Verletzten sich auf gütliche Weise abfand. Auch in den älteren deutschen Volksrechten spielt die Idee der T. eine große Rolle, sowohl durch die Gestattung der Blutrache, als auch in den ältesten öffentlichen Strafarten. Anklänge derselben finden sich auch noch in den Bestimmungen der Carolina, nach welchen diejenigen, welche einen Unschuldigen durch einen falschen Eid eines Verbrechens bezüchtigt od. welche boshaft gelästert haben, mit der Strafe belegt werden sollen, in welche sie den Anderen haben bringen wollen od. gebracht haben, ebenso in der absoluten Androhung der Todesstrafe für diejenigen, welche einem Anderen vorsätzlich das Leben genommen haben. Mit einem ausgebildeteren strafrechtlichen System verträgt sich die Idee der T. schon deshalb nicht, weil bei vielen Verbrechensarten die Wiedervergeltung mit demselben Übel gar nicht ausführbar ist od. doch wesentliche Zwecke der Strafe unbeachtet lassen würde. Deshalb hat auch keine der neueren Strafrechtstheorien die Idee der T. zur Grundlage genommen.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.