Tungusen

Tungusen

Tungusen (Tungusische Völker), im Allgemeinen die Gesammtbezeichnung für eine Gruppe sehr nahe verwandter Völker, welche im Nordosten Asiens die weiten Gebiete zwischen dem Japanischen u. dem Ochotskischen Meere im Osten, Korea, China u. der Mongolei im Süden, dem Stromgebiet des Jenisei u. der Angara im Westen u. den öden Landstrichen der Jakuten u. Korjäken im Norden einnehmen u. somit die Stammbevölkerung der chinesischen u. russischen Mandschurei, des ochotskischen Küstengebietes u. des südlichen Theils des Gouvernements Irkutsk u. Transbaikalien bilden. Sie sind in zahlreiche kleinere Stämme u. Geschlechter zersplittert, von denen ein jeder unter seinem eigenen Oberhaupt steht. Die frühere Eintheilung der T. in russische u. freie ist nicht mehr stichhaltig, da seit der Einverleibung des Amurlandes in das Russische Reich auch ein großer Theil der tungusischen Bevölkerung desselben unter russische Herrschaft gekommen ist. Die Zahl der in Sibirien befindlichen T. (in Europa vorzugsweise als Tungusen bekannt) wird auf 30–40,000 Seelen geschätzt. Auf Grundlage ihrer verschiedenen Lebensweise werden sie in Pferde- od. Viehtungusen, in Rennthier- u. Hundetungusen getheilt. Wenn auch ein Theil seßhaft geworden ist u. mehr od. minder russische Sitten angenommen hat, so sind sie doch zum größeren Theil noch Nomaden. In Sibiren wohnen T.: im Gebiet von Jakutsk 13,550, im Bezirk von Gishiginsk an 500, in der Umgebung von Turuchansk im Gouvernement Jenisseisk 1981. Im Gebiet von Irkutsk befinden sich T.: im Bezirk von Kirensk, bes. auf dem linken Lenauser (1695 Köpfe); im Bezirk Irkutsk an den Baikalufern u. im Sajanischen Gebirge (1706); im nördlichen Theile der Bezirke Werchne-Udinsk (1395); im Bezirk von Nertschins an der Ingoda, rechts vom Onon, am oberen Lauf der Turga u. anderwärts zusammen 5579 Männer u. 5274 Weiber, sämmtlich dem Uralginskischen Steppengericht zugewiesen. Dazu kommen noch die Manikowschen T., nördlich von Uralginsk (2938 Köpfe). Die T. sind regelmäßig gebildet, wohl gewachsen, mit kleinen Augen u. kleiner Nase, schwarzem Haar, doch nicht mit so breitgedrücktem Gesicht, als die übrigen Mongolen, mit scharfen Sinnen, eine eigne Sprache (s. Tungusische Sprache) redend, lebhaft, kräftig; ihre Wohnungen sind Filzzelte (Jurten). Sie sind, auf russischem Gebiete, sämmtlich Christen, neigen sich aber lieber dem Schamanenthum zu. Ihre Abgaben zahlen sie in Pelzwerk; ihr Handel ist lediglich Tauschhandel, ohne geprägtes Geld. Eigenthümlich ist die Zeitrechnung der T.; sie theilen nämlich ihr Jahr in zwei Jahre, ein Sommerjahr u. ein Winterjahr, von denen jedes sechs Monate zählt; jeder Monat beginnt mit dem Neumond; zur Ausgleichung erhält das Winterjahr noch einen Schaltmonat.

Die ältesten Nachrichten von dem Vorhandensein tungusischer Völker in der Mandschurei geben die Chinesen. Im 11. Jahrh. v. Chr. werden bereits die Sutschin (Shudschi od. Njutschi) erwähnt. Eine sehr rohe Lebensweise führten im 3. Jahrh. n. Chr. die Yleu od. Yliu, ebenso die im 5. Jahrh. erwähnten Muky (Mukho od. Moho). Um dieselbe Zeit treten die Chy-Goey auf, welche in nördliche u. südliche unterschieden werden. Die nördlichen, im Norden des Amur, hatten Rennthiere u. lebten von Jagd u. Fischfang; die südlichen Chy-Goey züchteten bes. Schweine u. Rinder u. sprachen die Sprache der Mokho. Unter diesen südlichen Chy-Goey wohnten die Khitan, welche vom 7. bis 9 Jahrh. viel mit den Chinesen zu kämpfen hatten, aber unter Apaokhi 907 das Reich von Khitan (s.d.) begründeten, welches bis 1125 bestand. Es wurde durch die Dynastie Kin gestürzt, welche aus dem tungusischen Stamme der Njutschi hervorging u. bis 1235 das Chinesische Reich beherrschte. Seit dieser Zeit gehorchten die tungusischen Stämme zuerst der Oberhoheit der Mongolen, dann der der Chinesen, bis die noch gegenwärtig herrschende Dynastie der Mandschu 1634 auf den chinesischen Thron kam. Seit dieser Zeit wurde der ursprüngliche Name des Stammes, welchem Thaitsung, der Stifter der Chinesischen Dynastie, angehörte, auf die übrigen tungusischen Stämme u. das Amurgebiet (Mandschurei) übertragen. Wie die früheren tungusischen Dynastien, so haben auch die Mandschu die chinesische Cultur angenommen u. eine eigene Schrift u. Literatur erhalten. Außer den russischen T. u. den Mandschu sind bis jetzt in dem Amurlande noch folgende tungusische Völker bekannt geworden: die Njutschi, von den Russen Dutscheri genannt, im östlichen Theile des Landes; die Dauren in den nach ihnen benannten Gebirgslandschaften; die Mangunen od. Oltscha (Oltza) am Amur, in deren Gebiet der russische Posten Kisi od. Mariinsk liegt; die Golde, oberhalb der Vorigen, am Amur; die Orotschen, südlich vom Amur, am Golfe der Tatarei, ein Jagd- u. Fischfang treibendes Küstenvolk; die Negda (russ. Negidalzen), am Amgun, u. die Gile, auch Samagerzi, am Goriefluß; die Orongen, Rennthiernomaden, welche den mittleren Theil (vom Flusse Pymy bis zur Patiencebai) bewohnen. Am oberen Amur wohnen die Orotschonen, von der Argunmündung bis herab nach Albasin; denselben schließen sich abwärts die Manegren an, welche bis zum Komar reichen; die Manyargs, nebst den verwandten Birars u. Solons, haben die großen Weiden im Bureyagebirge inne. Außerdem gehören zu den T. in Sibirien noch die Tschapogiren u. Lamuten (s. b.), welche Letzteren längs der Küste des Ochotskischen Meeres bis nach Kamtschatka hinein fischen u. nomadisiren.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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