Gerichtsgebrauch

Gerichtsgebrauch

Gerichtsgebrauch (Usus fori), die rechtlichen Grundsätze, welche bei einem Gerichte oder den Gerichten eines Landes, einer Provinz etc., ohne daß sie gesetzlich vorgeschrieben wären, nach langer Übung gleichförmig beobachtet werden. Man unterscheidet einen formellen G. (Stylus curiae), insofern sich diese Grundsätze nur auf das persönliche Verfahren u. die Form der gerichtlichen Handlungen beziehen; u. einen materiellen G. (Rechts- u. Urtheilsgebrauch, Auctoritas rerum perpetuo similiter judicatarum, französisch Jurisprudence des arrêts), als diejenigen Normen, welche in Beziehung auf das materielle Recht bei den Entscheidungen vorfallender Rechtshändel (Präjudizien, Präjudicate, englisch Precedents) festgehalten werden. In beiden Beziehungen ist der G. zunächst nur als eine Gewohnheit aufzufassen, welche aber bei dem Dasein der nöthigen Erfordernisse auch zu einem wirklichen Gewohnheitsrecht (s.d.) emporsteigen u. dadurch eine dem Gesetze völlig gleichkommende Kraft erlangen kann. Für den materiellen G. gehört hierzu, daß der G. nicht blos auf einer irrigen Auslegung des Gesetzes beruhen darf; in solchem Falle muß es dem Richter immer freistehen, bei erlangter besserer Überzeugung von den früher befolgten Grundsätzen wieder abzugehen. Wo dies dagegen nicht stattfindet, kann der G. um so leichter auch zu einer wirklichen Fortbildung des Rechtes führen, als jeder Richter ohnehin Anstand nehmen wird, durch ein leichtfertiges Verlassen der einmal befolgten Grundsätze sich dem Vorwurfe der Inconsequenz u. Unzuverlässigkeit auszusetzen, u. die Gerichtsuntergebenen selbst erwarten müssen, daß der Richter auch in anderen Füllen so, wie einmal entschieden worden ist, wieder entscheiden werde. Von besonderer Bedeutung sind in dieser Beziehung namentlich die Präjudizien der höchsten Gerichte, insofern sie zugleich allen Untergerichten einen Anhalt bieten, wie in letzter Instanz die Frage entschieden werden werde, wenn sie durch Rechtsmittel an das Obergericht gebracht werden sollte. Particularrechte haben daher es den höchsten Gerichten zur Pflicht gemacht, nicht allein diese Präjudizien genau zu sammeln, sondern auch von denselben nicht ohne ganz besondere Gründe u. ohne die reiflichste Überlegung (namentlich pflegt ein Plenarbeschluß sämmtlicher Mitglieder erfordert zu werden) wieder abzugehen. Vielfach sind auch solche Sammlungen veröffentlicht worden, so von J. A. Seuffert, Archiv für die Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe in den deutschen Staaten in Civilsachen, München 1847 ff., bis jetzt 12 Bde., u. Temme, Archiv für die strafrechtlichen Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe Deutschlands, Erlang. 1854 ff., bis jetzt 5 Bde. Der formelle G. verdient namentlich deshalb Beachtung, weil er meist allein, insofern nicht besondere Reglements vorhanden sind, über Ort u. Zeit der gerichtlichen Handlungen, über die Form der verschiedenen Schriften, welche von dem Gerichte auszugehen haben, etc. entscheidet. Als Ort der Verhandlung sind die Parteien befugt, immer denjenigen anzunehmen, welcher ein für allemal als regelmäßige Gerichtsstelle (Gerichtsstube, Gerichtsstuhl, bei Collegien Gerichtscanzlei) eingeführt ist. Ausnahmen davon sind daher den Parteien stets bes. bekannt zu machen. Über die Zeit s. Frühe Gerichtszeit u. Gerichtstag. Die Form der Schriften ist verschieden, je nachdem sie an die Parteien od. andere Gerichte gerichtet sind. An die Parteien ergehen Ladungen, Befehle, Resolutionen u. Erkenntnisse od. Urtheile; die Correspondenz der Gerichte unter einander geschieht, wenn sie einander coordinirt sind, in Form von Communicaten u. Requisitionen, wenn sie einander subordinirt sind, mittelst Berichten u. Rescripten od. Erlassen.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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