Pauperismus

Pauperismus

Pauperismus (Massenarmuth), im Unterschied von den Fällen, in welchen einzelne Individuen durch besondere Ursachen in Vermögensverfall gerathen, jene Dürftigkeit, welche ganze Klassen der Gesellschaft u. zwar ohne Schuld des Einzelnen u. ohne außergewöhnliche Zufälle (wie Krieg, Überschwemmungen, epidemische Krankheiten, Mißernten), sondern in Folge der ganzen Gestaltung der Vermögens- u. Einkommensverhältnisse einer solchen Abtheilung der Bevölkerung trifft. Die Bevölkerung selbst, welche in einem solchen Zustande sich befindet, nennt man Proletarier od. das Proletariat. Obgleich schon das Alterthum auch Arme (s.u. Armenwesen IV) u. das Mittelalter in den Klassen der zahlreichen Leibeigenen u. Hörigen seinen P. hatte, aus denen ein durchaus verarmter Bauernstand erwuchs, u. später auch der Umschwung des Welthandels, der in Folge des Colonialhandels eine Menge Gewerbe in den Binnenstädten brach legte, u. durch die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, welcher eine zahlreiche Klasse von Menschen ganz der bürgerlichen Beschäftigung entwöhnte, neue Massen von brodlosen Bettlern, Landfahrern u. anderm herumziehenden Gesindel erzeugten: so sind doch in der neuesten Zeit die Erscheinungen des P. noch häufiger u. in besorgnißvollem Umfang aufgetreten. Hauptsächlich hat derselbe sich in zwei Formen in den neueren Staaten verbreitet, in dem Proletariat der kleineren Grundbesitzer u. der Fabrikarbeiter. Das erstere zeigt sich überall da, wo der Grund u. Boden in so kleine Stücke getheilt u. die landbautreibende Bevölkerung so zahlreich ist, daß auf die einzelne Familie nur ein Maß kommt, welches nicht ausreicht, daß die Besitzer von dessen Ertrag genügenden Unterhalt erzielen. Beispiele dieser Art zeigen viele Gegenden in Frankreich u. Italien, auch in Süddeutschland u. am Rhein, hauptsächlich aber Irland. Noch entschiedener tritt meist die Massenarmuth bei der gewerbtreibenden Bevölkerung hervor, wenn entweder der Gewerbsbetrieb ein fabrikmäßiger geworden ist, od. wenn bei vollkommener Gewerbefreiheit große Unternehmer die Bestellung u. den Verkauf der Waaren an sich reißen u. die einzelnen Arbeiter nur Theile der Waare od. nur eine bestimmte Gattung von Waaren für den Unternehmer gegen Lohn verfertigen. Bei der Geringfügigkeit des Lohnes, welchen der Unternehmer bietet, geht dem Fabrikarbeiter u. dem kleinen, nur auf Bestellung des Unternehmers arbeitenden Gewerbtreibenden meist jede Füglichkeit ab, auch bei dem angestrengtesten Fleiße mehr zu erübrigen, als was zur Lebensnothdurft unumgänglich nöthig ist. Oft aber wird durch Handelskrisen, neue Maschinen, Aufgabe des Geschäftes Seitens der Unternehmer mit einem Male das Einkommen von Tausenden ganz aufgehoben. Beispiele eines solchen P. bieten namentlich manche Fabrikdistricte Englands, u. Ähnliches hat in Deutschland die Noth im Sächsischen Erzgebirge, die Bedrängniß der schlesischen Weber etc. gezeigt. Bei einem solchen P. tritt dann noch weit eher, als bei dem Ackerbauproletariat, eine tiefe Demoralisation u. eine staatsgefährliche Tendenz ein. Durch die allzu lang dauernde u. gleichförmige Arbeit, durch die wegen der beständigen Entfernung aller arbeitsfähigen Familienglieder aus dem Hause sich erzeugende Zerrüttung des Familienlebens, den Mangel einer genügenden Erziehung, die durch das frühzeitige Anhalten der Kinder zur Theilnahme an der Fabrikbeschäftigung verhindert wird, werden allmälig die Keime edlerer Gefühle u. Entschließungen in der großen Masse erstickt; an ihre Stelle tritt Haß u. Erbitterung gegen die bestehende Ordnung, welcher, bes. wenn sich das Fabrikarbeiterproletariat bes. in den großen Städten ansammelt, unter der Führung geschickter Agitatoren sich leicht zu Gewaltthaten hinreißen läßt. So hat der P. in den neuesten revolutionären Bewegungen Frankreichs, Deutschlands, Italiens entschieden eine große Rolle gespielt u. nicht wenig dazu beigetragen, den Kampf der politischen Parteien in blutige Straßenkämpfe ausarten zu lassen.

Um so mehr hat sich aber auch die Wissenschaft veranlaßt gefühlt, den Gründen des P. nachzuforschen u. die Mittel zur Abhülfe aufzusuchen. Die Wege, welche in dieser Beziehung eingeschlagen worden sind, sind sehr verschieden. Während die Einen den P. nur als eine vorübergehende, auch von der gewöhnlichen Einzelarmuth an sich nicht verschiedene Erscheinung ansehen wollen, dessen Vernichtung am besten sich selbst überlassen werde, u. gegen dessen Verbreitung daher im Ganzen auch nur dieselben Mittel anzuwenden seien, welche bei der Einzelarmuth aushelfen müßten (Wohlthätigkeit, Antrieb zur Sparsamkeit durch Begründung von Sparkassen etc.), haben andere dagegen den P. als den nothwendigen Grund zu einer gänzlichen Umgestaltung aller socialen u. Rechtsverhältnisse angesehen u. darauf hin Entwürfe zu einer ganz neuen Ordnung des Staates u. der Gesellschaft begründet. Die verschiedenen Systeme des Socialismus (s.d.) u. Communismus (s.d.) verdanken hauptsächlich dieser Richtung ihre Entstehung. So wenig Ausführbares bei diesen letzteren Versuchen nun auch bis jetzt zu Tage getreten ist, so wenig läßt sich auch eine. Abhülfe auf dem ersteren Wege erhoffen. Eine andere Methode sucht den P. je nach dem einzelnen Falle seines Auftretens zu bekämpfen u. erstrebt daher die Abwendung desselben dadurch, daß sie die besonderen Gründe, aus denen der P. in einer Gegend od. einer gewissen Schicht der Bevölkerung entstanden ist, aufspürt u., je nachdem diese Gründe sind, zu entsprechenden Gegenmitteln greift. Hiernach würde gegen das Ackerbauproletariat das durch übermäßige Bodenzersplitterung herbeigeführte Mißverhältniß des Ertrages der einzelnen Grundbesitzungen zu der Zahl der auf denselben mit ihrem Unterhalt angewiesenen Übervölkerung in ein richtiges Verhältniß zu bringen sein. Als Mittel hierzu bieten sich einestheils Maßregeln dar, welche dem Fortschreiten der Vereinzelung des Grundbesitzthums entgegenwirken, anderntheils Ableitung der zu großen Bevölkerung auf andere Gegenden od. Vergrößerung der der vorhandenen Bevölkerung[763] zur Bebauung zustehenden Bodenflächen durch Beifügung neuer bisher gar nicht od. nur in geringerer Benutzung gestandenen Gründe. In erster Hinsicht wird angerathen, ein gewisses Minimalmaß für die Grundbesitzungen festzusetzen, weitere Zersplitterungen zu untersagen, Zusammenlegungen zu begünstigen, die Tilgung der auf dem Grundbesitzthum lastenden Hypotheken durch Hypothekenbanken etc. zu unterstützen.; in der anderen Beziehung soll die Beförderung der Auswanderung od. auch die Überleitung der zu großen Ackerbaubevölkerung zum Betrieb lohnender Gewerbe von Nutzen sein; bietet sich die Gelegenheit dazu, so kann auch schon die Austheilung z.B. eines großen Walddistrictes zur Bestellung als Acker, unter zweckmäßiger Festsetzung der einzelnen Theile u. unter vorbeugenden Maßregeln wider ihre nochmalige Zertheilung durch Privatwillkür der Einzelnen, eine Abhülfe verschaffen. Weit schwieriger ist es allerdings hinlängliche Mittel wider den bei dem Betrieb der Gewerbe sich gebildet habenden P. anzugeben. Da von Staatswegen dem Übel durch Zurückschrauben der heutigen Ausbildung der Industrie zu dem früheren unvollkommenen u. gebundenen Gewerbsbetrieb (etwa durch Aufhebung der Gewerbefreiheit, wo möglich auch Prohibitivmaßregeln gegen Einführung neuer Maschinen etc.) zu begegnen unmöglich ist, weil der fabrikmäßige Gewerbbetrieb an sich hinsichtlich der Güte u. Wohlfeilheit der Waaren die entschiedensten Vortheile hat, nur bei ihm die mächtigen Naturkräfte für menschliche Zwecke vollständig benutzt, das Volksvermögen durch die sich mehrende Erzeugung werthvoller Handelsartikel gesteigert u. die Mittel zu geistiger Bildung vermehrt werden, so soll wenigstens der Staat Fürsorge dafür treffen, den Fabrikarbeitern einen gerechten Lohn seiner Arbeit, d.h. einen solchen, welcher zu dem Antheil an der fertigen u. verkäuflichen Waare in richtigem Verhältniß steht, zu sichern u. Mittel auffinden, welche den Arbeiter gegen die vorübergehenden Stockungen des Gewerbes insoweit schützen, daß er nicht durch solche alsbald in Mangel u. Elend gestürzt wird, u. daß er dem sittlichen Verderben steuere, welches durch die zu frühe Beschäftigung der Kinder, die gemischte Gesellschaft, die ermüdende Dauer der Arbeit u. den Mangel an eigentlichem Familienleben den Stand dieser Klasse von Menschen bes. bedroht. Die Sicherung eines gerechten Lohnes ist allerdings deshalb zum Theil der Einwirkung des Staates ganz entzogen, weil dieser Lohn durch den Werth der Waarebedingt ist, auf diesen aber wieder der allgemeine Stand des Volksvermögens, das Bedürfniß der Consumenten u. oft die Lage des ganzen Welthandels influiren, Umstände, welche der einzelne Staat oft nicht zu beherrschen im Stande ist. Dem Staate kann in dieser Hinsicht nur das zugemuthet werden, daß er alle Mittel, welche überhaupt zur Blüthe der Gewerbe taugen, nach Möglichkeit gewähre, daher durch Abschluß günstiger Handelsverträge die Eröffnung vortheilhafter Absatzwege unterstütze, andererseits aber auch bei einer übermächtigen auswärtigen Concurrenz dem inländischen Gewerbe soweit Schutz gewähre, als nicht andere Interessen der Volkswohlfahrt darunter leiden würden (vgl. Schutzzoll u. Freihandel). Dagegen kann die Zukunft für die zweckmäßige Vertheilung des einmal erlangten Gewinnes zwischen Arbeitgeber u. Arbeitnehmer eine Formel finden, welche geeignet ist, den Arbeiter besser zu stellen, als dies bei den bisherigen Lohnverhältnissen der Fall ist, zumal der eigene wahre Vortheil der bei dem Fabrikbetriebe betheiligten Capitalisten u. Unternehmer darauf in gleicher Weise hindrängt, als das Interesse der von ihnen abhängigen Arbeiter. Eine Aussicht dazu scheinen wenigstens für einen Theil des Kleingewerbes die neuerdings in vielen Städten gebildeten Vorschußkassen (s.d.) zu bieten, welche unter Benutzung des gemeinschaftlichen Credites dem kleinen Handwerker die Füglichkeit gewähren, nicht allein in größerem Maße, als er es für seine Person allein vermochte, das zum Betriebe seines Gewerbes erforderliche Capital zu verschaffen, sondern auch zugleich Ersparnisse zweckentsprechend anzulegen. Ein anderes Mittel in dieser Beziehung sind die Associationen der kleineren Gewerbtreibenden zum gemeinschaftlichen Einkauf ihrer Rohstoffe u. gemeinschaftlichen Verkauf der gewonnenen Erzeugnisse, wie sie namentlich in Paris mehrfach mit gutem Erfolg hervorgetreten sind. Gegen die augenblickliche Noth, welche durch Stockungen im Fabrikwesen entsteht u. in Folge von plötzlichen Handelskrisen, des Bankerottes eines großen Handlungshauses etc. oft jäh ganze Districte befällt, wird als zweckmäßiges Hülfsmittel die Begründung von Sparkassen (s.d.) empfohlen, in welchen von den Arbeitern in guten Zeiten von dem reichlicheren Lohne Ersparnisse zinsbringend angelegt werden können. Daneben können guteingerichtete Kranken- u. Begräbnißkassen ebenfalls sehr wohlthätig einwirken. Von größter Bedeutung für Verhütung u. Ausrottung des P. sind endlich die Anstalten, welche die Hebung des sittlichen Gefühles der untern Volksklassen bezwecken. Die Innere Mission (s.d.), wenn sie mit Besonnenheit getrieben wird, hat in dieser Beziehung ein weites Feld der Thätigkeit vor sich u. vermag viel zu wirken durch die Heranziehung der Arbeiterfamilien zu einem geordneten Familienleben, durch Erweckung des religiösen Sinnes, Bekämpfung der Laster des Trunkes, Müssigganges u. Bettels, Erziehung der Kinder zu geregelter Thätigkeit in sogenannten Kinderbewahranstalten u. Arbeitsschulen, Errichtung von Zufluchtsstätten für sittlich verwahrloste Individuen (Rettungsanstalten) etc. Als ein zweckmäßiges Mittel, das Familienleben der Arbeiter zu fördern, hat sich in neuerer Zeit bes. die Herstellung von Arbeiterwohnungen empfohlen, welche von den Arbeitsherren od. wohlthätigen Vereinen (Baugesellschaften) gegen billige Miethpreise an die Arbeiter abgegeben werden. Für Weckung des religiösen Sinnes ist die Festhaltung der Feier des christlichen Sonntags von hoher Wichtigkeit; ja dieselbe hat zugleich eine sanitätspolizeiche Bedeutung, indem sie dem Arbeiter die nöthige Ruhe sichert u. durch die damit der Sitte gemäß verbundene Reinigung der Wohnung u. des Körpers von dem werktäglichen Schmutze auch das leibliche Wohlbefinden befördert. Um diese wohlthätigen Wirkungen des Sonntags als Mittel gegen den P zu erhalten, ist es indessen nöthig, daß den Arbeitern die Gelegenheit genommen werde, diese Tage zur Völlerei u. andern unsittlichen Vergnügungen, Spiel u. Tanz zu mißbrauchen. In gleicher Weise können Mäßigkeitsvereine, Beschränkung der allzugroßen Zahl von Winkelkneipen etc. viel dazu beitragen, den P. zu mindern Die Literatur s.u. Armenwesen.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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