- Krankheit
Krankheit (Morbus, gr. Nosos), jede Abweichung von dem gesunden Lebensprocesse. Die Grenzen aber zwischen K. normalen u. abnormen Lebensprocesse sind so unmerklich u. je nach Alter, Geschlecht, Individualität etc. so verschieden, daß an eine scharfe Abgrenzung nicht zu denken ist. Diese Abweichung ist niemals etwas Gesetzloses u. stets in Umänderung der organischen Materie bedingt, daher rein dynamische K-en (wie man ehedem diejenigen K-en nannte, welche man sich ohne materielle Ursache dachte) es nicht gibt. In den frühesten Zeiten, als man noch keine Kenntniß vom Baue des menschlichen Körpers, von den Verrichtungen seiner Organe u. von dem Ineinandergreifen der verschiedenen Functionen hatte, hatte man auch keinen klaren Begriff von K. Nur die verschiedenen in die Augen fallenden widernatürlichen Erscheinungen am Körper berücksichtigte man, u. das Hauptsymptom gab den Begriff u. den Namen der K. In neuester Zeit aber hat man gestützt auf pathologische Anatomie u. physikalische Diagnostik die materiellen Ursachen der Krankheitssymptome zu ermitteln versucht u. dadurch sind eine Menge der einstmals als K-en aufgeführten Abweichungen vom normalen Lebensprocesse zu bloßen Krankheitserscheinungen herabgesunken. Leichteres, vorübergehendes, oft aber Krankheiten ankündigendes Übelbefinden bezeichnet man als Kränklichkeit od. Unpäßlichkeit (Aegritudo). Nach dem Verlauf der K-en unterscheidet man schnellverlausende od. acute K-en u. langwierige od. chronische K-en (s. b.). Ihrer Entstehung nach kann die K. sein angeboren (M. agnatus) von Geburt aus bestehend; erblich (M. congenitus), an der bereits die Vorfahren litten; u. erworben (M. acquisitus), im Leben erst entstanden. Ferner unterscheidet man von der ersten K. (M primarius, M. protopathicus), als der zuerst auftretenden, die derselben folgende, sich aus ihr entwickelnde (M. secundarius, [767] M. deuteropathicus) u. die hinzutretende (M. intercurrens, Complicatio); ferner rückschreitende K. (M. recurrens), Übergang aus einem späteren Entwicklungsgrade in einen früheren, u. rückfällige K. (M. recidivus), Rückfall der halb od. ganz Genesenen in die gleichnamige K. Die K. kann in verschiedener Weise zu- u. abnehmen, was man Krankheitstypus nennt, u. dieser kann sein gleichmäßig wachsend u. sodann nachlassend (Typus continens), wechselsweise zu- u. abnehmend (T. intermittens). Letzter Krankheitstypus zerfällt in den Paroxismus (Krankheitsanfall), Nachlassen der K. (Remissio) u. Aussetzen der Krankheitserscheinungen (Intermissio). Die je einmalige Wiederkehr dieser drei Zeiträume heißt Krankheitsumlauf (Circuitus). Nach Dauer der einzelnen Umläufe unterscheidet man Typus quotidianus, mit Umlauf von 24 Stunden, T. tertianus, mit Umlauf von zwei Tagen, T. quartanus, mit Umlauf von drei Tagen etc. Oft weicht der Krankheitsumlauf von diesem Zeitmaße ab, u. man unterscheidet voreilenden (T. anticipans, T. anteponens) Krankheitstypus, nachschleppenden (T. tardans, T. postponens), u. doppeltschnellen (T. duplicatus, T. duplex), bei Rückfällen gewöhnlich. Außerdem unterscheidet man im Verlaufe Krankheitsstadien, welche besonders in der alten Medicin hochgehalten wurden, von denen aber jetzt nur noch das Stadium der Vorboten (St. prodromorum), bestehend in Verstimmung des Allgemeingefühls, Appetitlosigkeit, Müdigkeit. das Stadium der eigentlichen K. mit ihrem Anfang, der Zunahme (Incrementum), u. der höchsten Entwicklung (Acme), u. der Abnahme (Decrementum) u. das Stadium der Genesung (Reconvalescenz) angenommen werden. Ausgänge der K. können sein: Krisis (s.d.), Wendung, Entscheidung der K.; Lysis (s.d.), Stillstand, langsames Verschwinden der Krankheitssymptome im Gegensatz zu der plötzlichen Änderung in der Krisis; Metaschematismns (s.d.), Änderung im Krankheitstypus; Metastasis (s.d.), Wanderung der K. nach an deren Organen; Tod. Die eine K. begleitenden Erscheinungen (Krankheitssymptome) werden entweder von Kranken wahrgenommen (subjective Symptome) od. sind auch für den Arzt sinnlich wahrnehmbar (objective Symptome). Letztere bestehen entweder in abnormer Thätigkeit eines Organs (functionelle Symptome), od. in Veränderung der physikalischen Eigenschaften desselben (materielle, physikalische Symptome). Den objectiven, hauptsächlich durch die sogenannte physikalische Diagnostik wahrzunehmenden Symptomen wird größerer Werth beigelegt, als den subjectiven Symptomen, da letztere von dem Grade der Empfindlichkeit, vom guten Willen u. von der Urtheilsfähigkeit des Patienten abhängen. Einige Symptome sind die nothwendigen Folgen der materiellen Veränderung eines Theiles (wesentliche, essemielle Symptome), andere dagegen hängen theils von Nebenumständen ab (accidentelle, zufällige Symptome), theils sind sie die Folgen des materiellen od. functionellen Zusammenhanges des erkrankten Theiles mit demjenigen, welcher ebenfalls eine veränderte Thätigkeit zeigt (consensuelle, sympathische, synergische Symptome). Selten nur sind die wesentlichen Symptome für eine bestimmte K. so charakteristisch (pathognomonisch), daß sie allein zur Erkenntniß der Krankheit genügten; oft kommt dasselbe Symptom der verschiedenartigsten K. zu, u. darum läßt sich nur durch das Zusammentreffen aller Symptome eine K. richtig bestimmen. Die Lehre von den Krankheitssymptomen heißt Semiotik u. die Kunst, aus ihnen einen Schluß auf die vorhandenen Störungen zu machen, Diagnostik. Aufgabe derselben ist den Krankheitssitz zu ermitteln u. zu bestimmen, ob die K. eine allgemeine, bei der kein einzelnes Organ besonders leidet, od. im Gegensatz eine örtliche; ferner ob es eine äußere, außen sichtbarer Körpertheile, od. eine innere, innen liegender Organ ist. Die chirurgischen K-en gehören meist zu den äußeren, jedoch sind dieselben nicht genau abzugrenzen (s. Chirurgie). Verlarvte K-en sind solche, welche sich unter der Maske anderer Übel verstecken. Die Lehre von den Krankheitsursachen (Ätiologie) hat sich mit den auf den Körper einwirkenden, K. bedingenden Schädlichkeiten zu beschäftigen, u. die physiologische Ableitung der Entstehung jeder einzelnen Krankheitserscheinung als Folge veränderter Form u. Mischung der Gewebe heißt Pathogenie. Die Ätiologie lehrt mit dem Erkennen der Schädlichkeiten zugleich die Aufgaben der Krankheitsverhütung (Vorbeugung, Prophylaxis) u. wird mit der Pathogenie gemeinschaftlich der Krankheitsheilung (Therapie) wichtig. Jeder lebende Körper kann erkranken, hat Krankheitsanlage (Disposition), jedoch ist dieselbe bei verschiedenen Individuen sehr verschieden, je nach der Fähigkeit des Organismus schädlichen Einflüssen zu widerstehen. Bei sehr geringer Widerstandsfähigkeit sind Erkrankungen sehr häufig (Neigung zum Krankwerden). Die Ursachen unterscheidet man als prädisponirende (Causae occasionales), welche den Körper zur Empfänglichkeit vorbereiten, als nächste (Causa proxima), die zumeist schon die Krankheit selbst ist. Ferner kann die Ursache eine äußere (C. externa), durch die Beziehungen des Körpers zur äußeren Welt bedingt, od. eine innere (C. interna), in den physiologischen Vorgängen derselben gelegen sein. Je nach den Ursachen unterscheidet man K. durch Contagium (s.d.), contagiöse K-en, diese können epidemische u. endemische (s. Epidemie u. Endemie) sein u. entweder durch Übertragung von einer Person auf die andere (ansteckende K.) od. durch ein herrschendes Miasma (miasmatische K.) zu Stande kommen; od. treten vereinzelt auf (sporadische K.), ferner durch Parasiten, Klima (Klimakrankheiten), durch Nahrungsmittel, Kleidung, Gewerbe (Gewerbekrankheiten), Wohnung etc. Je nach den Organen unterscheidet man Kopf-, Magen-, Darm-, Nervenkrankheit etc.; je nach Geschlecht u. Lebensalter, Männer-, Frauen-, Kinderkrankheiten, deren manche, gleich als wenn sie zur Ausbildung des Organismus gehörten, Entwicklungskrankheiten (s.d.) genannt werden. Den Körperkrankheiten stehen die Geisteskrankheiten gegenüber. Außerdem führen einzelne K-en noch besondere Namen, wie Brightsche, Englische, Blaue, Syphilitische K. etc. Vgl. Pathologie.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.