- Socialismus
Socialismus, die Gesammtheit der theoretischen Lehren u. praktischen Bestrebungen, welche durch eine veränderte Einrichtung der menschlichen Gesellschaft den Übelständen der gerade bestehenden gesellschaftlichen Ordnung u. den daraus namentlich für die niederen Klassen u. Schichten hervorgehenden Entbehrungen u. Leiden abzuhelfen u. einen Zustand allgemeinen Wohlbefindens u. einer vollständigen gesellschaftlichen Harmonie herbeizuführen beabsichtigen. Dergleichen reformatorische Bestrebungen erhalten ihre charakteristische Richtung in der Regel durch diejenigen gesellschaftlichen Mißverhältnisse, welche in einer bestimmten Zeit sich bes. sichtbar machen. So sind dergleichen Versuche schon in Plato's Republik, in der Utopia des Thom. Morus, der Oceana des Harrington, dem Sonnenstaate des Campanella, dem Code de la nature von Morelly u. ähnlichen idealen Schilderungen eines von den Gebrechen der Wirklichkeit befreiten gesellschaftlichen Lebens als reine Gedankenerzeugnisse theoretisch aufgetreten; die erste Hälfte des 19. Jahrh., in welcher auch die Bezeichnung derselben durch das Wort S. gebräuchlich geworden ist, hat aber mehre Versuche aufzuweisen solche Theorien auch praktisch auszuführen. Als die Hauptquellen, aus denen die gesellschaftlichen Leiden u. Gebrechen hervorgehen, erscheinen einerseits der Druck, welchen eine bevorzugte Minderzahl auf eine social zurückgesetzte u. untergeordnete Mehrzahl ausübt, sammt der dadurch für die letztere entstehenden vielförmigen Gebundenheit; andererseits der damit zusammenhängende Gegensatz zwischen Armuth u. Reichthum sammt den Wirkungen, welche die Armuth nicht nur durch aufgenöthigte Entbehrungen, sondern auch durch die Ausbeutung der Arbeit durch das Capital zum Nachtheil der Armen u. zu Gunsten der Reichen ausübe. Während nun die politische Entwickelung der drei letzten Jahrhunderte im Großen u. Ganzen wesentlich dahin strebte die mannigfaltigen aus dem Mittelalter überlieferten Formen der persönlichen Gebundenheit entweder zu sprengen od. abzustreifen, u. die persönliche Freiheit u. Rechtsgleichheit vorzugsweise durch die Englische [234] Revolution im 17. u. die Französische am Ausgang des 18. Jahrh. zu einem Principe geworden war, welches die Umbildung der mittelalterlichen Staats- u. Gesellschaftsordnung zur Folge gehabt hat, waren dadurch die wirthschaftlichen Unterschiede u. ihre Wirkungen nicht aufgehoben, vielmehr durch die Verwandlung der mittelalterlichen Naturalwirthschaft in die moderne Geldwirthschaft u. durch die riesenmäßige Ausdehnung der Industrie u. des Handels gesteigert u. fühlbarer geworden. Die persönliche Freiheit u. Rechtsgleichheit erschien bedeutungslos, so lange nicht Besitz od. Erwerb die Möglichkeit darbietet von ihr Gebrauch zu machen, u. ein gleichmäßig verbreiteter Wohlstand allen Gliedern der Gesellschaft diejenige Bildung zugänglich macht, welche mit der äußern Noth auch das Laster ausschließen soll. Der Communismus (s.d.) glaubte in gänzlicher Verkennung der sittlichen Grundlagen jeder unter Menschen möglichen gesellschaftlichen Ordnung u. der Naturgesetze alles wirthschaftlichen Verkehrs dieses Ziel einfach durch Aufhebung des Privateigenthums, gleiche Vertheilung der äußeren Güter etc. erreichen zu können. Der S., obgleich er hier u. da in seiner Kritik der bestehenden Zustände an den Communismus anstreift, beruht auf den Gedanken, durch eine veränderte Organisation der Arbeit, durch Regulirung des Verkehrs u. durch damit zusammenhängende allgemeine sociale Reformen den socialen Übeln abzuhelfen u. dadurch die Quellen des Lebensgenusses u. des Wohlstandes Allen gleichmäßig zu eröffnen. Dem Versuche diesen Gedanken systematisch auszuführen, den zu seiner Verwirklichung für nothwendig gehaltenen Einrichtungen durch allgemeine Sätze über die Natur des Menschen, seinen Neigungen u. Thätigkeiten eine speculative Grundlage zu geben u. die von diesen Einrichtungen u. Maßregeln erwarteten Wirkungen nationalökonomisch u. philosophisch zu rechtfertigen, verdanken die verschiedenen socialistischen Systeme Etienne Cabet's, Rich Owen's, Charl. Fourier's u. des Grafen Claud. Henri Saint-Simon (s.d. a.) ihren Ursprung, welche trotz der edel- u. menschenfreundlichen Gesinnung, aus der sie hervorgegangen sind, trotz der lehrreichen Analyse der Verhältnisse, unter welchen die niederen, zunächst auf körperliche Arbeit angewiesenen Schichten der Gesellschaft leiden, u. trotz mancher scharfsinnigen Combinationen, gerade durch die einseitige Consequenz, mit welcher sie aus ihren nichts weniger als zweifellos gewissen obersten Grundsätzen die Reconstruction der gesellschaftlichen Verhältnisse zu deduciren unternehmen, auch abgesehen von manchen damit verbundenen Spielereien u. Phantastereien, ihr Ziel verfehlen u. wenigstens in der praktischen Ausführung, wie sie Owen u. die Saint-Simonisten versucht haben, gänzlich gescheitert sind. Gleichwohl ist durch diese socialistischen Bestrebungen ein überaus fruchtbarer Gedanke geweckt worden, welcher, richtig ausgeführt, sehr wohlthätig wirken kann u. vielfach schon wirkt, nämlich der: der individuellen Arbeit u. den in ihrer Vereinzelung ökonomisch schwachen Kräften durch geregelte Vereinigung u. Association derselben diejenigen ökonomischen Vortheile zuzuwenden, welche naturgemäß dem größeren Capital als der ökonomisch stärkeren Kraft folgt, u. diejenigen Nachtheile von ihnen abzuwenden, denen sie in ihrer Vereinzelung unvermeidlich unterliegen. Dieses Princip der Association, wie es in den Erwerbs- u. Verzehrungsgenossenschaften, in den Vorschußvereinen, den Sparvereinen etc. angewendet wird, ist fähig nicht nur ökonomisch, sondern auch sittlich wohlthätig zu wirken, weil die Möglichkeit seiner Durchführung auf Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit u. der pünktlichen Erfüllung der genossenschaftlichen Pflichten beruht u. es somit die sittlichen Eigenschaften u. Thätigkeiten fordert u. belebt, auf denen alles ökonomische Gedeihen beruht, während es immer eine Chimäre bleiben wird gesellschaftliche Einrichtungen aussinnen zu wollen, welche ohne diese Eigenschaften u. Thätigkeiten Wohlstand, Bildung u. Lebensgenuß gleichsam auf mechanischen Wege erzeugen. S. unt. Communismus u. vgl. Reybaud, Etudes sur les réformateurs, Par. 1838; Cabet, Voyage en Icarie, ebd. 1840 (deutsch von Wendel-Hippler, Par. u. Lpz. 1847); Proudhon, Organisation du credit et de la circulation et solution du problème social, Par. 1848; Derselbe, Système des contradiction économiques, ebd. 1846, 2. Aufl. 1849, 2 Bde. (deutsch als Widersprüche der Nationalökonomie, Darmst. 1846); Derselbe, Idées générales de la révolution dans le 19. siècle, Brüssel 1851; Derselbe, Exposition méthodique des principes de l'organisation sociale, ebd. 1852; Ludw. Stein, Der S. u. Communismus des heutigen Frankreich, Lpz. 1844; Derselbe, Geschichte der socialen Bewegung in Frankreich seit 1789 bis auf unsere Tage, ebd. 1849–51, 3 Bde.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.