Wissenschaft

Wissenschaft

Wissenschaft, bezeichnet im allgemeinen jeden Inbegriff von Kenntnissen od. Erkenntnissen. Da die Gegenstände der Erkenntniß überaus mannigfaltig sind u. alles Wissen entweder von der Erfahrung ausgeht od. auf dieselbe zurückbezogen wird, so erstreckt sich das Gebiet der W-en zunächst auf das gesammte Gebiet der Erfahrung, u. die Unterscheidung der einzelnen W-en richtet sich nach der Verschiedenheit der Gegenstände, auf welche sie sich beziehen. Diese durch die Verschiedenheit der Gegenstände bestimmten einzelnen W-en bezeichnen z.B. die Worte Astronomie, Geographie, Heraldik, Physiologie, Chemie etc.; größere Klassen von W-en, welche sich auf gleichartige Gegenstände beziehen, bezeichnen die Worte Theologie, Medicin, Jurisprudenz, noch größere der Ausdruck historische u. Naturwissenschaften. Allen diesen Unterscheidungen u. Classificationen liegen logische Gesichtspunkte zu Grunde, indem nicht jede zufällig zusammengekommene, ungeordnete Masse der verschiedenartigsten Kenntnisse eine W. bildet; vielmehr beruht diese darauf, daß für die Kenntniß eines bestimmten Gebietes gleichartiger Gegenstände nach Vollständigkeit u. Ordnung gestrebt wird; sie ist daher als der möglichst vollständige u. geordnete Inbegriff gleichartiger Erkenntniß zu definiren. Alle W-en, welche ihren Stoff der Erfahrung entlehnen, sind empirische (Erfahrungswissenschaften) u. bleiben rein empirisch, so lange sie sich lediglich mit der Ansammlung, Beschreibung u. Anordnung des empirischen Stoffes beschäftigen. Die Fülle u. der Reichthum der für irgend ein Gebiet gesammelten u. gewußten Thatsachen bildet die eigentliche Gelehrsamkeit. Insofern solche W-en ihre Gegenstände genau beschreiben, heißen sie auch descriptive; die Anordnung des zu ihnen gehörigen Mannigfaltigen hängt ab von der Anordnung durchgreifender Eintheilungsgründe; sie sind in dieser Beziehung classificirende. Weil sie an einen thatsächlich gegebenen Stoff gebunden sind, gleichviel ob derselbe in der Natur der Dinge od. in der Thatsächlichkeit des Geschehenen u. in bestimmten historischen Überlieferungen liegt, heißen sie positive; hierher gehören nicht nur die Naturwissenschaften u. die Geschichte, sondern auch die positive Jurisprudenz u. Theologie, insofern die erstere sich auf die Kenntniß historisch entstandener Rechtsbestimmungen, die letztere auf die Thatsache der Offenbarung u. die dogmatischen Feststellungen einer bestimmten Kirche gründet. Die W. en, in denen es möglich ist durch beobachtende Vergleichung vieler Fälle (durch Induction) über die Regelmäßigkeit[295] dessen, was geschieht, einen Aufschluß zu gewinnen, also namentlich die Naturwissenschaften, heißen vorzugsweise inductive. Da aber die bloße Ansammlung u. Anordnung des rohen Erfahrungsstoffes dem Bedürfnisse des denkenden Geistes niemals vollständig genügt u. die Frage nach den Gesetzen, den Ursachen u. dem Zusammenhange des empirisch Gegebenen durch bloße Beobachtung u. Induction niemals vollständig beantwortet werden kann, so entsteht das Bedürfniß einer rationalen Behandlung des empirischen Wissens, d.h. das Bedürfniß sich subjectiv über die Gründe des Führwahrhaltens, objectiv über die Gesetze u. Ursachen dessen, was ist u. geschieht, durch denkende Reflexion Rechenschaft zu geben. W-en, welche unabhängig von der Erfahrung diese Aufgabe zu lösen versuchen, sind rationale; es gehören hierher die philosophischen u. die mathematischen, u. in jeder W., welche das erfahrungsmäßig Gegebene nicht blos so, wie es gegeben ist, aufzufassen, sondern zu verstehen sucht, werden sich philosophische u. mathematische Elemente geltend machen. Namentlich ist die Anwendung der Mathematik für die Ausbildung der Naturwissenschaften von entscheidender Wichtigkeit, u. diejenigen Theile der Naturwissenschaft, in denen es gelungen ist die Naturgesetze mit mathematischer Präcision zu bestimmen, heißen vorzugsweise exacte W-en. Ein Wissen im strengen Sinne des Wortes findet überhaupt nur da statt, wo sich das Fürwahrhalten auf Gründe, auf einen inneren, von subjectiver Willkür u. Vorliebe unabhängigen Zusammenhang der Gedanken, auf die Einsicht in die Unmöglichkeit des Gegentheiles stützt; dadurch wird die bloße äußere Kenntniß eigentliche Erkenntniß, u. W-en, welche im Stande sind alle ihre Lehrsätze mit zwingender Nothwendigkeit aus unmittelbar gewissen Grundgedanken (Axiomen u. Principien) abzuleiten, heißen demonstrative, im Gegensatze zu den empirischen u. inductiven, welche den Grund des Fürwahrhaltens nicht aus dem inneren Zusammenhang der Begriffe u. Gedanken, sondern aus den Thatsachen der Erfahrung entlehnen. Jede W. ferner, welche sich zunächst mit ihrer eigenen Aufgabe beschäftigt, ohne Rücksicht auf ihre Anwendung auf andere Gebiete des Forschens od. des Handelns, heißt rein; wird sie mit dieser Rücksicht dargestellt, so wird sie zur angewandten, u. bei den vielfältigen Beziehungen der W-en untereinander, vermöge deren sie ihre Ergebnisse untereinander auszutauschen genöthigt sind, u. bei der Fülle von Belehrungen, welche das vorhandene Wissen den Arbeiten des thätigen Lebens darzubieten im Stande ist, lassen sich für diese Anwendungen im Voraus keine bestimmten Grenzen ziehen. Der Gegensatz der reinen u. angewandten W-en fällt zum Theil zusammen mit dem der theoretischen u. praktischen W-en. An sich hat nämlich jede W. zunächst eine theoretische Aufgabe, die Erkenntniß ihres Gegenstandes um ihrer selbst willen; praktisch wird sie, wenn ihre Resultate zur Förderung u. Erreichung der in das Gebiet des thätigen Lebens fallenden Arbeiten u. Zwecke angewendet werden, wie dies z.B. bei der Mathematik u. Chemie in der ausgedehntesten Weise der Fall ist; daher man auch solche W-en, welche aus verschiedenen anderen W-en das zur Ausführung bestimmter Arbeiten Nothwendige u. Förderliche entlehnen, wie z.B. die Bergwerks-, Handels-, Kriegswissenschaften etc., vorzugsweise praktische nennt. Der Unterschied theoretischer u. praktischer W. hat aber auch noch eine andere Bedeutung, wenn er darauf bezogen wird, ob eine W. lediglich die theoretische Erkenntniß dessen, was ist u. geschieht, darbietet, od. ob sie sich damit beschäftigt, einen Maßstab des Vorzüglichen u. Verwerflichen, des Schönen u. Häßlichen, des Guten u. Schlechten u. dadurch für das menschliche Streben u. Handeln gewisse Zielpunkte u. Zwecke festzustellen, nach denen es an sich selbst u. in seinen Wirkungen beurtheilt wird. Hierher gehören alle Kunstlehren im weitesten Sinne des Wortes; die wichtigste Stelle nehmen auf diesem Gebiete die ethischen od. moralischen W-n ein, welche man, weil die Zwecke, auf welche sie hinweisen, die Grenzen des individuellen Daseins überschreiten u. die Mittel ihrer Erreichung zum großen Theile an die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen gebunden sind, häufig auch die socialen nennt.

Die allgemeine Geschichte der W-en hat ihren Stoff aus der Geschichte der einzelnen W-en zu entlehnen, wie sie sich allmälig entwickelt, bei fortschreitender Erfahrung u. tiefer u. genauer in ihre speciellen Probleme eingehender Untersuchung von einander gesondert u. gegenseitig auf einander eingewirkt haben. Die Vermehrung u. Verarbeitung des empirischen Wissens, so wie die Ausbildung des dasselbe durchdringenden u. beherrschenden Gedankenkreises, ist dabei zeitlich u. räumlich sehr ungleich vertheilt; diejenigen Völker, welche auf die Erhöhung der wissenschaftlichen Cultur vorzugsweise einen fördernden Einfluß gehabt u. die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung auf die Gestaltung ihres religiösen, politischen u. gesellschaftlichen Lebens, auf ihre technische u. ökonomische Thätigkeit angewendet haben, sind vorzugsweise Culturvölker. Die wichtigsten Förderer u. Träger der wissenschaftlichen Cultur sind die europäischen Völker; die Anfänge u. Grundlagen der meisten wissenschaftlichen Untersuchungen finden sich schon bei den alten Griechen, u. bis tief in das Mittelalter hinein bewegte sich das wissenschaftliche Studium innerhalb der dürftigen Kenntniß, welche von den Kenntnissen u. Lehren der alten Welt auf jene Jahrhunderte gekommen war. Gleichwohl wurde schon im Mittelalter durch Gründung von Schulen u. Universitäten (s.d.) eine der wichtigsten Bedingungen des wissenschaftlichen Fortschrittes dargeboten; lange Zeit jedoch blieb die Beschäftigung mit den W-en an die Zwecke gebunden, welche für das geistliche, bürgerliche u. leibliche Wohl des Menschen die dringendsten sind. Die Unterscheidung der theologischen, juristischen u. medicinischen Facultät, als der drei oberen, von der alle übrigen W-en in sich begreifenden philosophischen als der unteren war die Veranlassung, daß man die theologischen, juristischen u. medicinischen W-en vorzugsweise Facultätswissenschaften nannte; dieser Ausdruck bekam später die Nebenbedeutung einer Beschränkung des wissenschaftlichen Studiums auf einen bestimmten äußeren Beruf, u. man stellte ihnen Philosophie, Geschichte, Philologie etc. als Humanitätswissenschaften gegenüber, d.h. als solche, welche um ihrer selbst willen u. zum Zwecke der allgemeinen geistigen Bildung getrieben werden. W-en, deren Begründung u. Erweiterung gänzlich od. zum größten Theil erst der neueren Zeit gelungen ist, wie viele Zweige der Naturwissenschaften,[296] die Sprachwissenschaft u. s. s. nennt man wohl auch vorzugsweise moderne W-en. Die Kenntniß der jeweiligen Entwickelungsstufe, welche die wissenschaftliche Cultur zu verschiedenen Zeiten u. bei verschiedenen Völkern eingenommen hat od. eben jetzt einnimmt, ist die Wissenschaftskunde od. Encyklopädie (s.d.). Vergleicht man den gegenwärtigen Zustand der W-en mit ihren ersten. dürftigen Anfängen, so läßt sich für die weitere Entwickelung derselben, für das darin liegende Bedürfniß einer immer größeren Theilung der wissenschaftlichen Arbeit einerseits u. der Beziehung der Ergebnisse verschiedener W-en auf einander andererseits, also für die darin liegende Gliederung des Gesammtgebietes aller W-en im Voraus kaum etwas Sicheres bestimmen, u. deshalb haben die Versuche dieses Gesammtgebiet aus gewissen allgemeinen philosophischen Gesichtspunkten abzuleiten od. wenigstens nach ihnen anzuordnen u. so eine philosophische Encyklopädie aller W-en aufzustellen, immer nur einen relativen Werth. Im 17. Jahrh. enthielten den ersten bedeutenden, zugleich auf eine veränderte Richtung u. Erweiterung der wissenschaftlichen Forschung gerichteten Versuch einer encyklopädischen Übersicht der W-en die beiden Schriften des Baco von Verulam (s.d.), De dignitate et augmentis scientiarum u. Novum organon. Außer den in dem Artikel Encyklopädie I. genannten Schriften gehören hierher aus späterer Zeit noch D'Alembert, Systême figuré des connaissances humaines (in dessen Mélanges littéraires); I. M. Gesner, Primae lineae isagoges in eruditionem universalem, Götting. 1774, 2 Thle.; Töpfer, Encyklopädische Generalkarte aller W-en mit Commentar, Lpz. 1806, 1808; Schaller, Encyklopädie u. Methodologie der W-en, Magdeb. 1812; Berg, Versuch über den Zusammenhang aller Theile der Gelehrsamkeit, Frankf. a. M. 1794; Hester, Darstellung eines Systems aller W-en, Lpz. 1806; Simon, Tabellarische Übersicht der W-en, Bremen 1810.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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