- Begnadigung
Begnadigung (lat. Aggratiatio, Indulgentia, Abolitio), das der höchsten Gewalt im Staate zustehende Recht, Verbrechen od. Straferkenntnisse in gewissen rechtlichen Beziehungen zu tilgen od. zuerkannte Strafen zu mildern. Die B. erfolgt: entweder a) vor vollendeter richterlicher Untersuchung od. doch vor gefälltem Straferkenntniß, u. heißt dann Abolition; od. b) nach gesprochenem Urtheile, u. ist. dann vollständige B. durch Aufhebung aller Strafe, od. unvollständige B. durch Aufhebung nur eines Theiles der Strafübel; od. c) nach bereits eingetretenem Strafvollzuge, entweder durch Erlaß des noch zu verbüßenden Strafrestes, od. durch Vernichtung der rechtlichen Folgen einer verbüßten Strafe, u. heißt dann Restitution. Als eine besondere Art der B. unterscheidet man noch die Amnestie (s.d.) od. den Generalpardon als eine zum Vortheil einer ganzen Masse von Verbrechern ertheilte Abolition. Die Möglichkeit der B. entspringt aus dem Begriffe u. Wesen des Staates, der, während der Richter blos das Recht zu üben u. bei seinem Urtheil den Menschen nur in rechtlicher Beziehung zu denken hat, mehr als eine bloße Rechtsordnung, nämlich die Entwickelung des ganzen sittlichen Lebens erstrebt. Das Begnadigungsrecht (Jus aggratiandi), d. b. die Befugniß der höchsten Staatsgewalt, Gnade für Recht ergehen zu lassen, ist daher auch von Alters her u. in allen Staaten anerkannt worden; aber eben weil sie trotz dem Gesetze u. gegen dasselbe geübt wird, ist sie überall blos dem ertheilt, der über jedem blos menschlichen Gesetze steht. Aus dieser Begründung des B-rechts folgt aber, daß der Staat durch dasselbe nur über das verfügen kann, was sein eigenes Recht ist u. als solches in seinem Namen geübt wird, daß es sich also nur auf die Strafe u. das Strafrecht erstrecken darf, ohne dabei gegen wohlerworbene Rechte Dritter zu verstoßen. Deshalb behält z.B. der Eigenthümer veruntreuten Geldes seinen Entschädigungsanspruch gegen den begnadigten Veruntreuer. Selbst die Abolition u. vollständige B. kann den wohlerworbenen Privatrechten eines Dritten, namentlich des Beschädigten, auf Schadenersatz u. Privatgenugthuung nichts vergeben. Früher war es streitig, ob der Verurtheilte auf die B. verzichten u. den Vollzug der Strafe, so wie sie erkannt worden ist, verlangen dürfe. Aber der Verbrecher hat keinen Rechtsanspruch auf Vollziehung der richterlich ausgesprochenen Strafe, sondern nur den Anspruch, daß keine härtere, als die erkannte, an ihm vollzogen werde. Die B., die an ihm im Namen des Staates geübt wird, erscheint entweder als geläuterte Gerechtigkeit, welche der auf das Gesetz zu gründende Richterspruch nicht geben konnte, od. als ein Act der Großmuth, welcher gegenüber kein Forderungsrecht besteht. Die Wirkung einer ausgesprochenen B., bes. ob sie eine vollkommene od. unvollkommene (s. oben) ist, ist in jedem einzelnen Falle aus dem [490] Inhalte der B-sordonnanz zu bestimmen. Die Gründe, ob in einzelnen Fällen B. zu üben sei, können theils von der objectiven Seite des Verbrechens hergeleitet werden, z.B. wenn eine so große Anzahl von Verbrechern, bes. bei politischen Vergehen, betheiligt sind, daß die volle Strenge des Gesetzes in Grausamkeit übergehen u. zur Erhaltung des Ansehens desselben nichts beitragen würde; theils von der subjectiven, z.B. aus ganz besonderen Verdiensten des Verbrechers etc. Unter der Geltung der älteren Strafgesetze, die fast nur absolute Strafen androhten, war eine häufigere Übung des B-rechtes um so mehr geboten, je mehr diese Gesetze hinter den Anforderungen einer vorgeschrittenen Zeit zurückgeblieben waren. Die neueren Verfassungsurkunden erkennen dasselbe u. daß der Landesherr an eine Concurrenz der Stände dabei nicht gebunden sei, meist ausdrücklich an. Nur beschränken es einige theils hinsichtlich gewisser Arten der B., wie z.B. der Abolition, theils hinsichtlich bestimmter Verbrechen, wie Verletzungen der Verfassung, Dienstverbrechen der Staatsdiener etc.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.