Seele [1]

Seele [1]

Seele (lat. Anima, gr. Psyche), 1) dasjenige Wesen, welches als der Träger u. als das ursachliche Princip des geistigen Lebens angesehen wird. In dieser Bedeutung kommt der Begriff der S. nicht blos in den wissenschaftlichen Systemen, sondern auch in der gemeinen Auffassung vor; bei allen Völkern u. auf allen Culturstufen, für welche sich überhaupt das Gebiet der inneren Erfahrung von dem der äußeren zu sondern anfängt, findet sich auch mehr od. weniger bestimmt die Unterscheidung von Leib u. S. (Dichotomie). Gleichwohl ist weder die Existenz, noch die Beschaffenheit der S. ein unmittelbarer Gegenstand der inneren Erfahrung; wir nehmen innerlich nicht die S. selbst, sondern nur das wahr, was in ihr u. durch sie geschieht, u. die Vorstellungen von ihrem Wesen u. ihrer Wirkungsart haben daher sehr verschiedene Formen u. Richtungen angenommen. Bei den ältesten griechischen Philosophen, welche sich die Gesammtheit aller Veränderungen aus einem od. mehreren stoffartigen Principien zu erklären suchten, wird die S. fast durchaus für gleichartig mit dem gehalten, was das allgemeine Princip des Entstehens ist; so erklärte sie Anaximenes für ein luftartiges Wesen, Heraklit für einen feurigen Hauch, die Atomisten für ein kugelförmiges, leichtbewegliches Atom. Das durch die Lehre des Sokrates lebhaft geweckte Bewußtsein der weiten Kluft, welche das bewußtvolle Denken u. das[748] sittliche Wollen von den rein körperlichen Zuständen u. Vorgängen trennt, u. das bei Plato hervortretende Bedürfniß zu den veränderlichen u. wechselnden Erscheinungen unveränderliche, in ihrem Wesen sich selbst gleichbleibende Realgründe zu suchen, ließ den Letzteren die S. als das ihrem Wesen nach vom Körper verschiedene, aber mit ihm verbundene Princip des Lebens, der Bewegung u. des Denkens ansehen; der vernünftige Theil der S. war ihm etwas dem Ewigen u. Göttlichen Verwandtes, für welches die Verbindung mit dem Körper mehr eine Fessel, als ein Hülfsmittel der Entwickelung ist. Aristoteles, gestützt auf eine reichere Beobachtung der mannigfaltigen Erscheinungen des geistigen Lebens theils an sich, theils in ihrer Wechselwirkung mit dem leiblichen, erklärte, zugleich unter dem Einflusse seiner allgemeinen metaphysischen Grundbegriffe, die S. für die Kraftthätigkeit, durch welche die in einem bestimmten organischen Körper liegenden Möglichkeiten verwirklicht werden. Die Pflanze hat daher für ihn ebenso eine S., als das Thier u. der Mensch; aber die menschliche S. hat eine längere u. höhere Reihe ihrer Entwickelungsstufen. Die ernährende S. (als das Princip der Zeugung u. des Wachsthums) haben auch die Pflanzen; dazu kommt bei den Thieren die sinnlich empfindende, so wie die begehrende u. bewegende S.; der Mensch überragt sie nicht nur durch das Sprachvermögen u. durch das höhere Maß u. den weiten Umfang des Gedächtnisses u. der Phantasie, sondern hauptsächlich durch die Vernunft, welche Aristoteles in ihrer Rückbeziehung auf die Empfindungen u. Begehrungen als leidende, nach der ihr eigenthümlichen Thätigkeit des höheren Denkens als thätige bezeichnet. Für die spätere Ausbildung der Lehre von der S. war es von großem Einfluß, daß bei Aristoteles ihre höheren Functionen, obwohl sie für das die Bestimmungen des organischen Lebens verwirklichende Princip, also in dieser Beziehung für identisch mit der Lebenskraft erklärt wurde, doch ihrer eigenen Möglichkeit nach durch ihre niederen Functionen bedingt, also in dieser Beziehung selbst bloße Möglichkeiten sind; daher sich bei ihm zuerst der Begriff der Seelenvermögen (s.d.) findet. Andererseits erschien ihm das höhere, speculative Denken, die Function der Vernunft, als etwas dem körperlichen Organismus gänzlich fremdartiges; daher läßt er die Vernunft, welche göttlichen Ursprunges ist, von außen zu dem Leibe hinzutreten. Während nun die Ansichten über das Wesen der S. das ganze Mittelalter hindurch sich an die aristotelische Unterscheidung der Anima vegetativa, sensitiva, appetitiva u. rationalis anlehnten, lag in der zuletzt erwähnten Bestimmung u. in der allgemeinen Schwierigkeit, die höhere Ausbildung des geistigen Lebens aus seinen ersten in den sinnlichen Empfindungen liegenden Anfängen befriedigend abzuleiten, die Veranlassung einer Unterscheidung zwischen Leib, S.u. Geist (Trichotomie), welche, da sie zugleich in den biblischen Schriften vorkommt, bei den kirchlichen Schriftstellern viele Vertreter fand u. auch jetzt noch ihre Anhänger hat. Unter dem Einflusse der platonischen Philosophie, der aristotelischen Sonderung der Vernunft von der Beseelung des organischen Lebens u. der christlichen Lehre von dem höheren Ursprunge u. der über dieses Erdenleben hinausreichenden Bestimmung der S. gelangte nun die Ansicht zu einer fast allgemeinen Geltung, daß die S. ein einfaches, immaterielles, unzerstörbares Wesen sei, welches in den ihm inwohnenden Anlagen u. Vermögen den Realgrund für dasjenige enthalte, was als Thatsache der inneren Erfahrung in die Sphäre des menschlichen Bewußtseins fällt, dessen bewußtvolle Thätigkeit aber nicht auf seine Verbindung mit dem Leibe beschränkt sei, sondern ewig fortdauere. Diese Ansicht fand ihre philosophischen Haltepunkte zugleich in dem Satze des Cartesius, daß es überhaupt nur zwei Arten von Substanzen gebe, denkende u. ausgedehnte, u. in der Lehre Leibnitz's, daß die Thätigkeit aller in den Dingen wirkenden Kräfte nach Analogie der Vorstellungen u. Strebungen der S. zu denken sei. Dabei blieb immer noch Raum für verschiedene Meinungen, theils über den Ursprung der S., ob sie für jedes Individuum von Gott besonders geschaffen werde (Creatianismus), od. in dem Zeugungsacte von den Eltern auf die Kinder übergehe (Traducianismus od. Generatianismus); (vgl. Ennemoser, Historischpsychische Untersuchungen über den Ursprung u. das Wesen der menschlichen S., Bonn 1824, 2. Aufl. Stuttg. 1851; Frohschammer, Über den Ursprung der menschlichen S-n, Münch. 1854; von Struve, Zur Entstehung der S., Tüb. 1862; I. H. Fichte, Zur Seelenfrage, ebd. 1859); theils über die Frage, welche u. wie viele Vermögen die S. habe u. welches die Functionen jedes einzelnen seien; theils über die Art, wie die S. zu den Vorstellungen gelange, ob ihr einige derselben ursprünglich inwohnen (angeborene Begriffe) od. ob sie das Material des gesammten Vorstellungskreises aus dem Verkehr mit der Außenwelt entlehne (s. Sensualismus). Diesem, wenn auch mannigfaltig modificirten, doch im Ganzen vorherrschenden Spiritualismus (s.d.) trat nun namentlich seit dem 18. Jahrh. theils der Materialismus (s.d.) gegenüber, theils behauptete der Kriticismus Kants, obwohl er die Annahme verschiedener Seelenvermögen zur Grundlage seiner ganzen Lehre machte u. somit die Existenz der S. zur Voraussetzung hatte, die gänzliche Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntniß zu einer theoretischen Bestimmung über das Wesen derselben u. erklärte namentlich die Annahme ihrer Unsterblichkeit nicht für einen wissenschaftlichen Lehrsatz, sondern für einen auf das sittliche Bedürfniß sich stützenden Glaubensartikel. Die nachkantische Philosophie hat zu der Entscheidung der Frage, ob die Voraussetzung der S. eine zur Erklärung des geistigen Lebens unentbehrliche Annahme sei, das Hauptgewicht auf die Thatsache des Selbstbewußtseins gelegt u. der in neuerer Zeit mit verstärkter Kraft wieder hervorgetretene Materialismus hat nicht im Geringsten vermocht, die Einheit des Ich u. die Durchdringung alles dessen, was als Vorstellung, Gedanke, Gefühl, Wille etc. innerlich sich ereignet, in der Einheit eines u. desselben Bewußtseins aus der von ihm angenommenen Thätigkeit der einzelnen Theile des Gehirnes begreiflich zu machen. Die Vereinigung der S. mit dem Leibe hat die Frage nach dem Sitze der S. hervorgerufen. So lange man die S. mit der Lebenskraft identificirte, war man, wie selbst noch Aristoteles, geneigt, das Blut dafür zu halten; jedoch schon der Pythagoreer Alkmäon u. die Ärzte Herophilus u. Galen erklärten dafür das Gehirn; Cartesius glaubte ihn in einem bestimmten Theile des Gehirnes, der Zirbeldrüse (Glandula pinealis), nachweisen zu können; Sömmering (Über das Organ der S., Königsb. 1796) nahm an, daß sie in[749] den in den Hirnhöhlen enthaltenen dunstförmigen Flüssigkeiten ihren Sitz habe. Physiologische Beobachtungen sprechen dafür, daß das Gehirn als das Centralorgan des Nervensystems zugleich das Organ der Empfindungen u. psychischen Thätigkeiten sei, obgleich die Art der Vermittelung u. der Antheil der einzelnen Theile des Gehirnes an denselben noch unbekannt ist. Neben der Annahme eines local bestimmten Sitzes der S. ist jedoch vielfach die Ansicht aufgestellt worden, daß die S. durch den ganzen Körper, namentlich durch das ganze Nervensystem verbreitet sei. Über die verschiedenen Meinungen von dem Zustand der S. nach der Trennung von dem Leibe im Tode s. Seelenwanderung, Seelenschlaf u. Zustand nach dem Tode; vgl. Göschel, Der Mensch nach Leib, S.u. Geist diesseit u. jenseits, Lpz. 1856; 2) im Allgemeinen ein einzelner lebendiger Mensch, wie z.B. die Volkszählungen nach S-n geschehen, wozu dann als Besonderes Männer, Weiber, Kinder etc. kommen. Daher Seelenregister, Angabe der Bevölkerung einer Gemeinde in ihrer Gesammtheit u. nach einzelnen Branchen; 3) in metaphorischer Bedeutung bezeichnet S. überhaupt das belebende, regelnde, ordnende Princip für ein Gebiet bewußtvoller Thätigkeit. So nennt man z.B. einen vorzüglichen Lehrer die S. einer Schule, eine thätige Hausfrau die S. des Hauses etc. Auch bezeichnet er häufig nicht blos das ursachliche Princip, sondern den Ausdruck des geistigen Lebens; in diesem Sinne spricht man z.B. von einem seelenvollen Auge, einem seelenvollen Gedicht u.s.f.; 4) die die allegorische Darstellung erläuternde Inschrift auf einer Denkmünze.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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