Souveränetät

Souveränetät

Souveränetät (lat. Suprema potestas), heißt die im Begriffe des Staates enthaltene oberste Gewalt, welche berufen ist das staatliche Gemeinwesen seiner wesentlichen Bestimmung gemäß zu ordnen u. zu leiten. In idealer Auffassung erscheint dieselbe als der mit Intelligenz, Freiheit u. zwingender Macht ausgerüstete, selbständige Staatswille, welcher keineswegs mit dem Gesammtwillen der einzelnen Mitglieder des Staatswesens od. der Majorität dieser Einzelwillen zusammenfällt; in der Wirklichkeit beruht sie in dem Willen desjenigen, welcher nach der Staatsform zur Repräsentation des Staates nach Innen u. Außen berufen ist, des Trägers dieses Willens, welcher ebendeshalb als Souverän (s.d.) bezeichnet wird. Die S. hat nach diesem Begriffe sowohl eine völkerrechtliche als eine staatsrechtliche Bedeutung, u. man unterscheidet nach diesen beiden Richtungen bei der S. eine National- u. eine Fürstensouveränetät. In völkerrechtlicher Hinsicht kommt der Begriff der S., Nationalsouveränetät, nur den Staaten zu, welche äußerlich von keinem andern Staate abhängig sind; in der zweiten Beziehung wird für die S., Fürstensouveränetät, vorausgesetzt, daß der Träger der Gewalt mindestens so gestellt sei, daß er keinen Andern im Range u. in der Gewalt über sich habe. Indessen wird durch Beides nicht ausgeschlossen, daß die S. Beschränkungen unterworfen werden kann. In zusammengesetzten Staaten, Staatenbünden, Bundesstaaten haben die Einzelstaaten, obschon sie in gewissen Beziehungen dem Ganzen untergeordnet u. durch die Bundesverträge gebunden sind, dennoch auch S, u. so spricht man z.B. in der Schweiz neben der S. des Bundes auch noch von einer Cantonalsouveränetät u. unterscheidet ebenso in Deutschland u. Nordamerika zwischen der S. der Einzelstaaten u. der des Bundeskörpers. Da die Beschränkung der S. auch in den äußeren Beziehungen eine große Menge von Abstufungen zuläßt, so hat man sogar in dieser Beziehung den Begriff der Halbsouveränetät gebildet u. versteht darunter solche staatliche Verhältnisse, bei denen zwar die innere Basis der S. vorhanden, die äußere aber durch eine höhere Macht entzogen ist. Diesem Begriffe entsprach früher ungefähr die deutsche landesherrliche Gewalt, wenigstens in der Theorie, indem nach der Verfassung des Deutschen Reiches nur der Kaiser nach außen als der einzige Souverän betrachtet werden konnte. Ein anderes Beispiel bot bis vor Kurzem die Herrschaft Kniphausen, deren Inhaber unter Oldenburger Oberhoheit alle Rechte der inneren Landeshoheit, des Seehandels u. einer eigenen Flagge besaß, u. noch gegenwärtig besteht ein solches Verhältniß hinsichtlich der Wahlfürstenthümer der Moldau u. Walachei, so wie Serbiens unter türkischer Oberhoheit. Die Rechte des vorgesetzten S-s pflegen dann gewöhnlich als Suzeraineté bezeichnet zu werden Noch weniger kann mit dem Begriffe der S. eine unbeschränkte Gewalt nach innen verbunden werden, weil dann in letzter Consequenz daraus folgen würde, daß nur absolute Monarchien als wahrhaft souveräne Staaten zu betrachten wären. Allein unleugbar ist z.B. der Beherrscher[322] von Großbritannien eben so souverän als jeder andere Fürst in Europa. Indessen hat es freilich nicht an Versuchen gefehlt den Begriff der S. auch in der Weise auszudeuten, daß sich mit demselben eine Theilnahme des Volkes an den öffentlichen Geschäften überhaupt nicht vertrage od. wenigstens eine solche Theilnahme dann nicht als wesentliches Stück der Verfassung erscheinen dürfe. Versuche dieser Art sind zuerst in Frankreich aufgetreten, für Deutschland liegt ein solcher in der Wiener Schlußacte vor, indem dieselbe im Anschluß an die Bestimmung des Art. 1 der Bundesacte, nach welcher die am Bunde Theil nehmenden Fürsten als souveräne Fürsten bezeichnet wurden, darin auch einen Grundbegriff monarchischer Machtvollkommenheit ausgedrückt fand, welcher namentlich das Princip einer Theilung der Staatsgewalt zwischen Fürst u. Landesvertretung, so wie eine Organisation der letzteren nach bloßer Kopfzahl u. unter Nichtbeachtung der ständischen Unterschiede untersage. Im dritten Gegensatz zu diesen Versuchen hat sich die Idee der Volkssouveränetät entwickelt. Während jenen Versuchen eine möglichste Concentrirung der Staatsgewalt in der Hand der Fürsten vorschwebte, beruht die Idee der Volkssouveränetät auf der Ansicht, daß die höchste Gewalt im Staate ursprünglich dem Volke zustehe, welches dieselbe nur an den Fürsten übertragen habe. Unter Volk wird dann aber der Regel nach nicht die gesammte staatlich geordnete Nation in Haupt u. Gliedern, Regierung u. Regierten, sondern, indem der Staat in lauter einzelne Individuen aufgelöst wird, die Masse od. die Mehrheit dieser Individuen verstanden. Diese Idee liegt insbesondere den Lehren J. J. Rousseau's zu Grunde, welcher den Staatswillen dem allgemeinen Willen (Volonté générale) völlig gleichstellte u. die gesammte Existenz des Staates auf einen Staatsvertrag zurückführte; sie wurde dann in der Französischen Revolution u. auch in den Bewegungsjahren 1848 u. 49 in Deutschland vielfach aufgestellt. Wie man sie aber auch construiren mag, wird doch in ihr das Wesen des Staates als einer besonderen, selbständigen Rechtsinstitution durchaus verkannt. Die Idee der Volkssouveränetät verwickelt sich in die Abenteuerlichkeit, daß sie die oberste staatliche Gewalt gerade den in dem politischen Organismus untergeordneten Volksklassen zuschreibt, da diese immer die Mehrheit bilden, u. daß sie so die politisch nicht ausgezeichneten Klassen über die politisch hervorragenden stellt. Diese Ansicht kann praktisch auch nur in der absoluten u. unmittelbaren Demokratie einen Sinn haben, weil nur in dieser Staatsform die Menge selbst in Person die oberste Macht hat u. ausübt. In der repräsentativen Demokratie wird sie schon zu einer bloßen Fiction, denn die oberste staatliche Macht ist in ihr wenigstens der Regel nach bei dem auserwählten Repräsentativkörper u. nicht bei der Mehrheit der Bürger. Mit allen anderen Staatsformen, insbesondere der erblichen Monarchie, ist sie durchaus unvereinbar. Richtig ist nur, daß, weil der Staat, wie alles Recht unbestreitbar zuletzt auf dem Volkswillen, d.h. der durchgebildeten Überzeugung des zu einer sittlichen Individualität emporgewachsenen Gemeinwesens beruht, auch jede concrete Staatsordnung durch den vernünftigen Willen des Volkes getragen u. durch das im Volke herrschende Rechtsbewußtsein in seiner Fortenwickelung bestimmt wird. Dies führt wohl dazu, daß die Staatsgewalt die Stimme des Volkes, soweit sie sich auch in den Kundgebungen der Einzelnen manifestirt, zu beachten hat, nicht aber daß der Inhaber der S. diese Kundgebungen, selbst wenn sie von der Mehrheit der Individuen ausgehen, als den von seinen Auftraggebern geäußerten Willen strict zu befolgen habe. Überhaupt gibt es neben dem verfassungsmäßigen Organ der Regierung u. sogenannten Volksrepräsentation rechtlich gar keinen Volkswillen, weshalb auch jeder Volksrepräsentation nicht die Idee eines Mandats, sondern nur die Idee der juristischen Vertretung eines an sich willensunfähigen Subjects zu Grunde zu legen ist. Vgl. Fr. Ancillon, Über S. u. Staatsverfassungen, Berl. 1815; Thilo, Die Volkssouveränetät in ihrer wahren Gestalt, Breslau 1833; Maurenbrecher, Die deutschen regierenden Fürsten u. die S., Frankf. 1839; u. dagegen Fr. Nebelthau, Wahrheit u. Irrthum in der Maurenbrecherschen Schrift, Kassel 1839.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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