- Gretna
Gretna (spr. Gretne, seltener Graithuey), Dorf in der schottischen Grafschaft Dumfries, unweit der Mündung des Sark in den Solway Busen des Irischen Meeres, an der Eisenbahn von Carlisle nach Glasgow, dicht an der englischen Grenze gelegen; Weberei; 2000 Ew. Nahe dabei liegt das Dorf Springsfield; der Gemeindeplatz zwischen beiden heißt Gretna Green (spr. G. Grihn), bekannt als ein Zufluchtsort für Liebende (bes. Engländer), welche gegen den Willen ihrer Eltern, Angehörigen od. Vormünder eine Ehe einzugehen beabsichtigten u. dort mit Leichtigkeit getraut wurden. Lange Zeit war, namentlich in Deutschland, die Meinung verbreitet, daß ein von seinen Feinden verfolgter englischer König bei einem Hufschmied in G. Zuflucht gefunden gehabt u. ihn deshalb nachher berechtigt hätte, gültig zu trauen. Dies ist entschieden eine Fabel. Das Wahre an der Sache ist das, daß nach dem noch in Schottland geltenden alten kanonischen Rechte jede, auch ohne Aufgebot u. ohne Einwilligung der Eltern od. Vormünder in Gegenwart von zwei glaubwürdigen Zeugen vor einem Geistlichen, Friedensrichter, Notar od. überhaupt als rechtlich anerkanntem Manne, nach der ausdrücklichen Versicherung des betreffenden Paares, daß beide noch unverheirathet u. nicht im verbotenem Grade verwandt seien, eingegangene Ehe als rechtsgültig vollzogen betrachtet wird; daß dieselbe zwar mit harter Strafe bedroht ist, dessenungeachtet aber nicht wieder getrennt werden kann. Nachdem unter Georg II. dies Gesetz in England aufgehoben worden war, wandten sich (da in England jede im Auslande geschlossene Ehe gültig ist, wenn sie nur nach den an dem Trauungsorte zu Recht bestehenden Gesetzen vollzogen wurde) diejenigen Paare, deren ehelicher Verbindung von Seiten der Angehörigen Hindernisse in den Weg gelegt wurden, nach Schottland u. namentlich nach dem dicht an der Grenze gelegenen G., durch welches auch schon vor der Erbauung der Eisenbahn die von London nach Glasgow u. Edinburg gehende Straße führte, u. das daher schnell u. leicht zu erreichen war. Von 1764 an wurden derartige Ehen namentlich vor einem Victualienhändler, Namens Joseph Paisley, vollzogen, dessen Haus auf dem Gemeindeplatz stand, woher es kommt, daß Gretna Green u. nicht das Dorf G. bei Bezeichnung solcher Heirathen genannt wird. 1790 brannte dies Haus nieder u. Paisley zog zu einem Freunde, einem Grobschmied in Springsfield, in dessen Wohnung nun die Trauungen stattfanden. Als 1791 Paisley wieder nach G. zurückzog, wandte sich demungeachtet ein Theil der jungen Paare noch immer an den Grobschmied in Springsfield (irrthümlich, aber allgemein fortwährend der Grobschmied zu Gretna Green genannt), während ein anderer Theil sich im dortigen Gasthof von dem Ortsgeistlichen, Pfarrer David Laing, unter Verlesung des Kirchengebets trauen ließ. Der Grobschmied starb 1827, sein Nachfolger Henry Collins 1848. Der Besitzer des Gasthofs in Springsfield war bis 1845 J. Linton. Der Pfarrer David Laing starb 1843, sein Sohn folgte ihm im Amte. Die Gebühren für eine solche Trauung waren nach Rang u. Reichthum verschieden, der niedrigste Preis 15 Guineen. Bis 1833 fanden in Gretna Green u. Springsfield jährlich im Durchschnitt 300 derartiger Heirathen statt; als später die Gesetze verschärft wurden, vielleicht noch gegen 100. 1848 ging im Parlament unter Bezugnahme auf diese Art schottischer Trauungen ein Gesetz durch, welche jede heimliche Verehelichung mit harter Strafe bedrohte. Dieselben haben seitdem bedeutend abgenommen, u. seit 1857 müssen Braut u. Bräutigam mindestens in den letzten 3 Wochen vor der Trauung in Schottland gewohnt haben. Das königlich preußische Obertribunal in Berlin entschied im Februar 1855, daß eine in Gretna Green geschlossene Ehe in Preußen rechtliche Gültigkeit habe, da diese Ehe, auch ohne priesterliche Einsegnung, deshalb gültig sei, weil die Form der Eheschließung lediglich von den an dem Trauungsorte zu Recht bestehenden Gesetzen abhänge. Unter den hervorragenden Persönlichkeiten, welche sich auf diese Weise in Gretna Green trauen ließen, finden sich: der Graf von Westmoreland, Lord Ellenborough, Sheridan, Lordkanzler Erskine, Lord Brougham, der Prinz von Capua (Bruder des Königs Ferdinand II. von Neapel mit der Irländerin Miß Penelope Smith, im Jahr 1837), u.v.a.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.