Kuhpocke

Kuhpocke

Kuhpocke (Schutzpocke, Vaccina, Variola vaccina, V. tutoria), ein auf dem menschlichen Körper durch Impfung (Vaccination) bewirktes, sehr gelind u. gefahrlos als eine mehr örtliche Krankheit verlaufendes Blatterexanthem, welches, wenn es in gehöriger Art überstanden wurde; nicht[881] nur gegen künftige Ansteckung der K., sondern auch der echten Menschenpocke zu schützen pflegt u. selbst in dem Falle einer dennoch erfolgten Ansteckung bei Pockenepidemien, die letztere Krankheit in einer sehr gemilderten Form verlaufen läßt. Der schützende Impfstoff wird aus dem lymphatischen Inhalte der am Euter der Kühe sich findenden originären od. primitiven K. (Vacciola) entnommen u. durch Impfung auf Menschen weiter fortgepflanzt. In Gegenden, wo starke Rindviehzucht getrieben wird, war es schon längst bekannt, daß die an den Eutern der Kühe sich zeigende K. leicht auf die Hände der Melkenden übertragen wurde u. solche Personen gegen die echte Menschenpocke geschützt waren. Die erste zu diesem Zwecke eigens vorgenommene Impfung wurde 1791 an drei Kindern vom Schullehrer Plett in Holstein verrichtet, ohne weiter beachtet zu werden. Andere Versuche zeigten ungleichen Erfolg, u. Ärzte, wie Laien, wendeten ihre Aufmerksamkeit nicht weiter darauf. Auch Jenner hatte, schon seit 1770 mit der K. u. deren Schutzkraft bekannt, in Jahre 1775 Nachforschungen darüber gemacht, ohne jedoch die Ärzte dafür gewinnen zu können, denn die Schutzkraft hatte sich nicht in allen Fällen bewährt, wahrscheinlich weil nur die echte Vacciola, u. auch diese nur in einem bestimmten Stadium ihrer Entwickelung jene Wirkung habe. 1796 kam Jenner dahin, die bei dem Menschen erzeugte Schutzpocke durch Impfung auf eine andere Person zu übertragen, setzte dann durch mehrjährige Versuche den Thatbestand der ganzen Lehre fest u. wurde dadurch der Schöpfer des Heilverfahrens der Kuhpockenimpfung (Vaccination), welche gegenwärtig fast in ganz Europa (zum Theil auch in den übrigen Welttheilen) auf Anordnung der Negierungen eingeführt ist u. von obrigkeitlich bestätigten Impfärzten nach gewissen gesetzlichen Vorschriften ausgeübt wird. Die zur Erzeugung der Schutzpocke benutzte, am Euter der Kühe auftretende Pose ist die echte K., welche in der Regel bei neumelkenden Kühen vorkommt u. zum Unterschied von der schnell verlaufenden, aus kleineren Bläschen, Pusteln od. Knötchen bestehenden falschen K., tiefsitzende blaurothe Flecke bildet, welche nach etwa 5 Tagen einen rothen Hof erhalten u. am siebenten Tage eine erbsengroße Pustel wird, am zehnten Tage mit Hinterlassung eines schwärzlichen Schorfs einsinkt, zumeist von Fiebererscheinungen bedingt ist u. dem Thiere bei Berührung schmerzt. Die Impfung geschieht auf folgende Weise: man ritzt mittelst der Impfnadel (Impflanzette) die Haut des Oberarmes mit einigen leichten Stichen od. Schnittchen u. streicht in diese Wunde die aus einer gut entwickelten Schutzpocke genommene klare Lymphe sorgfältig hinein u. läßt sie vertrocknen. Die Impfung geschieht zumeist von Arm zu Arm od. durch Lymphe, welche hermetisch zwischen Glastäfelchen od. in Glasröhrchen od. auf kleinen, in einem wohlverwahrten Fläschchen eingeschlossenen Stäbchen von Elfen- od. Fischbein aufbewahrt wurde. Die zur Impfung verwendete Lymphe muß von einem gesunden Kinde u. aus einer gut entwickelten Schutzpockenpustel (zwischen dem sechsten n. neunten Tage) genommen sein, wo sie noch farblos, hell u. durchsichtig ist. An jedem Arm macht man wenigstens vier Impfstiche Kranke Kinder, sind mit der Impfung zu verschonen, obschon chronische Leiden nicht immer hinderlich sind. Manche Krankheiten sind durch die Impfung gebessert worden, in anderen Fällen scheinen Krankheiten hervorgerufen worden zu sein. Das Alter des Impflings darf nicht ein zu frühes sein, jedoch impft man schon vom vierten Lebensmonate an, u. nahende Pockenepidemien können Ausnahmen gestatten. Der Verlauf der echten Schutzpocke ist folgender: kurz nach dem Impfen zeigt sich eine leichte Röthung der Haut, die aber bald wieder verschwindet. Am vierten Tage wird die nur einem Flohstiche ähnliche Stelle zu einem härtlichen, in der Mitte eingedrückten Knötchen. Am sechsten Tage verwandelt sich dieses in ein Bläschen, das bis zum neunten Tage der echten Menschenpocke ähnlich wird u. dabei mit leichten Fieberbewegungen verläuft. Vom zwölften Tage an wird der Inhalt der Pustel trübe u. endlich eiterig, während die Röthe der Umgebung unter Abschilferung verschwindet u. nach Entleerung des Inhaltes Schorf u. Narbe zurückbleiben. Der Verlauf kann durch verschiedene Ursachen, zumal warme Jahreszeit, beschleunigt werden. Die ausgebildete Pustel der Schutzpocke ist prall rund od. u. je nach der Impfwunde rund od. länglich mit einem Nabel in der Mitte, der zwar verstreichen kann, nie aber in eine Spitze sich verläuft u. das bräunliche Schörfchen des Impfstiches trägt; sie ist von einem rothen, harten, selbst ödematösen Hof umgeben. Die in der Pustel enthaltene Kuhpockenlymphe (später eiterig) fließt nach dem Einschnitt nur langsam u. theilweise aus, indem die Pustel zellig durchwebt ist. Der nachfolgende Schorf ist braungelb, hornartig u. deckt eine strahlig od. netzförmig geformte Narbe. Zu der echten Schutzpocke gesellen sich zuweilen Hautrose, Hautgeschwüre, Anschwellung benachbarter Lymphdrüsen, Bläschen od. Knötchen, Ausschlag um die Pustel herum (Psydracia vaccina) etc. Die unechte od. gestörte Schutzpocke (Vaccinella) schützt nicht gegen die Menschenpocke u. kommt bisweilen daher, daß die Lymphe aus einer unechten K. stammt od. aus einer zu weit vorgerückten Pustel der echten K. die Lymphe verdorben war od. die Entwickelung der Schutzpocke durch Aufkratzen od. Krankheiten gestört wurde. Bei der unechten Schutzpocke fehlt der Nabel, anstatt dessen zeigt sich zuweilen eine Spitze, die Narbe fehlt od. ist verunstaltet. Wie lange die Schutzpocke schütze, ob auf Lebenszeit od. nur auf eine Reihe von (etwa 10) Jahren, ist neuerdings zweifelhaft geworden, u. man hat darum für sicherer befunden, bei ausbrechenden Epidemien alle vor längerer Zeit Geimpfte noch einmal zu impfen (Revaccination). Wiederauffrischung des Impfstoffes durch Zurückimpfen auf Kinder (Retrovaccination, Regeneration), sowie durch Aufsuchen der originären K., wird jetzt in civilisirten Staaten durch die Sanitätspolizei betrieben, welche auch durch Impfinstitute auf Erhaltung guter Schutzpockenlymphe bedacht ist, weil die Lymphe beim Hindurchwandern durch viele Impflinge schwächer werden kann. In neuester Zeit hat man von verschiedenen Seiten her theils die Schutzkraft der Impfung gänzlich geleugnet u. das Auftreten der angeblich durch die Impfung bedingten milderen Form von Pocken (Varioloiden) durch eine vielleicht nur zeitweise, wie auch bei anderen epidemischen Krankheiten bemerkbare Abnahme der Heftigkeit der Erscheinungen zu erklären versucht od. einige, jetzt allgemeiner als sonst verbreitete Krankheiten des Menschengeschlechtes, als durch Impfung von einem Individuum auf das andere übertragen betrachtet. Vgl. Jenner, An inquiry in to[882] the causes et effects of the Variolae vaccinae, Lond. 1798, (deutsch von G. F. Ballhorn, Hannov. 1799); Pearson, History of Cowpox, 1798; Schreiber, Gründe gegen die allgemeine Kuhpockenimpfung, Eschwege 1832; Bousquet, Traité de la vaccine, Par. 1833; Resultate der Revaccination, Ludwigsb. 1836; Heim, Historisch-kritische Darstellung der Pockenseuchen, 1838; Hering, Kuhpocken an Kühen, Stuttg. 1839; Prinz, Praktische Abhandlung etc. (Retrovaccination), Dresd. 1839; Viszanik v. Zöhrer, Anomalien der Schutzpocken, Wien 1840; Wiser, Vaccination u. Revaccination, ebd. 1842; Ceely, Beobachtungen über die K., Vaccination, Revaccination u. Variolation der Kühe, aus dem Englischen von Heim, Stuttg. 1842; Zöhrer, Der Vaccineproceß u. seine Krisen, Wien 1844; Reiter, Würdigung der großen Vortheile der Kuhpockenimpfung, 1852; Hasse, Die Menschenblattern u. die Kuhpockenimpfung, Lpz. 1852; Häser, Die Vaccination u. ihre neuesten Gegner, Berl. 1854.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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