- Politische Vergehen
Politische Vergehen, im Gegensatz der gemeinen Verbrechen, alle diejenigen Verbrechensfälle, welche auf ein Unternehmen gegen die Existenz, Integrität, Verfassung od. Sicherheit des Staates abzielen od. sonstwie als staatsgefährliche Handlungen dem Strafgesetze unterstellt sind. Der Begriff fällt daher in keiner Weise mit der aus dem Römischen Rechte stammenden Eintheilung der Verbrechen in Delicta publica u. D. privata zusammen, welche letztere sich nur auf die Art des processualen Verfahrens bezog, je nachdem bei der Untersuchung u. Bestrafung der Ordo judiciorum publicorum od. der O. j. privatorum wirksam wurde, eine Accusatio od. nur eine Actio stattfand; ebensowenig mit der Eintheilung in Staats- u. Privatverbrechen, wie dieselbe die Criminaltheorie aufgestellt hat, indem diese nur den Gesichtspunkt des nächsten Objectes der verbrecherischen Handlung zum Eintheilungsgrunde hat. Die Hervorhebung der P-n V. hat vielmehr ihren Grund nur in den besonderen Motiven des Verbrechers; ihr Begriff trifft diejenigen Verbrechensfälle, bei denen die Triebfeder des verbrecherischen Handelns gemeinhin in einer politischen Parteiansicht od. überhaupt in dem Streben nach einer Umänderung der öffentlichen Zustände zu suchen ist. Der Umfang, welcher dem Begriffe der P-n V. zu geben ist, steht weder in der Theorie, noch in der Praxis vollkommen fest, doch werden überall zu den P-n V. gerechnet: Hochverrath, Landesverrath, Landfriedensbruch, Aufruhr, Erregung von Haß u. Verachtung gegen die Regierung, Theilnahme an staatsgefährlichen u. verbotenen Vereinen, verbotene Einwirkung auf die politischen Wahlen; im weiteren Sinne sind wohl auch Majestätsbeleidigung, wenigstens insoweit sie in persönlichen Angriffen gegen den Regenten besteht, Widersetzung gegen die öffentliche Autorität u. Amtsbeleidigungen unter den Begriff der P-n V. gestellt worden. Ihre besondere Bedeutung haben die P-n V. erst in neuerer Zeit dadurch erhalten, daß von einer Seite eine nachdrückliche Verfolgung u. besonders strenge Ahndung dieser Verbrechen gefordert[279] wurde, während von einer anderen Seite gerade umgekehrt versucht wurde, den verbrecherischen Charakter derselben ganz in Abrede zu stellen od. wenigstens den Reatus bei ihnen auf ein sehr geringes Maß herabzusetzen. Von der ersten Ansicht ging für Deutschland bes. der Bundesbeschluß vom 18. Aug. 1836 aus, welcher zugleich die Bezeichnung P. V. zuerst in officiellen Gebrauch brachte. Nach diesem Bundesbeschluß übernahmen die zum Bunde vereinigten Staaten die Verpflichtung, die wegen P-r V. zu verfolgenden Individuen sich gegenseitig auf Verlangen auszuliefern, insofern nicht ohnehin schon in dem Staate, in welchem sich der Auszuliefernde befindet, gegen denselben eine Untersuchung wegen des angezeigten Verbrechens einzuleiten sein würde. Seit jener Zeit machte sich dann auch in den neueren Strafgesetzgebungen das Streben kund, die P-n V. mit bes. harten Strafen zu bedrohen u. den Begriff der staatsgefährlichen Handlungen selbst auszudehnen. Man ging dabei vielfach von der Ansicht aus, daß die Bestrafung der P-n V. nicht sowohl als ein Act der reinen Rechtspflege, sondern als Act der Nothwehr zu betrachten sei, indem der Staat zum Schutze seiner Existenz kein anderes Mittel in Händen habe, als dem gegen seinen Bestand gerichteten Angriff durch möglichste Unschädlichmachung der betreffenden Übelthäter für die Zukunft zu begegnen. Diese Ansicht drang auch in die Form des Verfahrens ein, u. es wurden in Folge dessen häufig willkürliche Abweichungen von dem regelmäßigen Gange des Untersuchungsprocesses eingeführt, durch Einsetzung besonderer Gerichtshöfe derartige Verbrecher ihrem ordentlichen Gerichtsstand entzogen, außerordentliche Commissionen für deren Aburtheilung ernannt, die für die Überführung sonst geltenden Grundsätze dafür aufgehoben, außerdem unzulässige Zeugen für zulässig erklärt etc. Für die entgegengesetzte Ansicht, nach welcher den P-n V. überhaupt ein verbrecherischer Charakter nicht beigelegt, ja ihre Begehung öfters als eine Empfehlung patriotischen Sinnes betrachtet wurde, ist bes. bestimmend gewesen, daß in der That diejenigen Ideen, von welchen die Begeher P-r V. bei ihren verbrecherischen Handlungen durchdrungen waren u. sich leiten ließen, zuweilen später zur Herrschaft gelangt sind. Manche glauben hiernach, es könne den politischen Verbrechern höchstens ein Irrthum insofern als sie nicht den rechten Zeitpunkt u. die rechten Mittel für ihre Unternehmen gewählt hätten, zur Last gelegt werden; in jedem Falle könne die That des politischen Verbrechers, weil sie nicht aus gemeinen, eigennützigen Motiven hervorgegangen sei, auch nicht als eine ihn entehrende betrachtet u. deshalb nicht gleich anderen Verbrechen mit entehrenden Strafen belegt werden. Indessen geht die Verübung P-r V. nicht immer aus rein patriotischen Motiven hervor, sondern kann ihren Grund ebenso sehr in einer ganz eigennützligen u. selbstsüchtigen Absicht haben, als in einer wah. hast patriotischen, das Beste der Gesammtheit erstrebenden Gesinnung; selbst wo die letztere aber vorgewaltet haben sollte, kann damit die Wahl der Mittel nicht gerechtfertigt werden, welche die That durch Verletzung des Gesetzes zum Verbrechen stempelt. Überhaupt können Zweck u. Beweggründe einer Handlung nie so weit das Urtheil über die Rechtmäßigkeit einer Handlung beeinflussen, daß diese selbst hierdurch ihren in der äußeren That vorliegenden verbrecherischen Charakter verlöre; denn vor dem Gesetz kommt es nur auf das wirklich Gethane u. die zunächst vorliegende Willensrichtung des Handelnden an. Daß aber der Staat an sich ein Recht hat, Angriffe, welche gegen seine Existenz, Integrität u. Sicherheit gerichtet sind, als Verbrechen anzusehen u. mit Strafen zu belegen, kann nicht bezweifelt werden; ja es erscheint bei der Gemeingefährlichkeit, mit welcher dergleichen Angriffe sowohl die Erhaltung der ganzen Rechtsordnung, wie die Interessen der Einzelnen bedrohen, auch gerechtfertigt, wenn die Strafen für dergleichen Verbrechen eine höhere Stufe einnehmen. Dagegen wird die Verübung solcher P-r V. dem Staatsoberhaupt öfters gegründete Veranlassung bieten, die Härten des Gesetzes durch Begnadigung auszugleichen, u. in manchen Staaten pflegt bes. der Zeitpunkt eines Regierungswechsels als die regelmäßige Veranlassung zur Ertheilung einer Amnestie (s.d.) für die während der Regierung des verstorbenen Fürsten begangenen P-n V. benutzt zu werden. Bezüglich der processualischen Behandlung sollen die P-n V. nicht den gewöhnlichen Gerichten entzogen u. an besondere Gerichtshöfe verwiesen werden, weil die Erfahrung lehrt, daß dadurch fast immer die strengrechtliche Beurtheilung gelitten hat u. die Entscheidung politischen Anschauungen anheimgefallen ist; ebenso wenig sind Geschwornengerichte zur Entscheidung über P. V. geeignet, indem die unmittelbar aus dem Volke gewählten Geschwornen zu sehr unter dem Einfluß der politischen Strömungen stehen u. daher in ruhigeren Zeiten od. nach Überwältigung einer Volksbewegung gegen politische Verbrecher oft zu hart urtheilen, bei bewegteren Zeiten dagegen wieder den Staat zuweilen gegen die gefährlichsten Angriffe schutzlos lassen. Im internationalen Verkehr gilt es als feststehende Regel, daß politische Verbrecher nicht ausgeliefert werden, auch wenn wegen der Auslieferung gemeiner Verbrecher besondere Staatsverträge bestehen.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.