Schicksal

Schicksal

Schicksal, heißt im gewöhnlichen Sprachgebrauch ein Ereigniß od. eine Reihe von Ereignissen, welche sich nicht vorhersehen u. abändern ließen, weil ihre Ursachen unbekannt waren. In diesem Sinne spricht man von den S-en eines einzelnen Menschen, wie ganzer Reiche u. Völker. Die Frage, ob die Wirkung der unbekannten Ursachen, welche das unvorhergesehene S. herbeiführten, durch andere Ursachen, also auch durch menschliches Handeln, sich würde haben abwenden lassen, wird dabei in der Regel nicht aufgeworfen; das S. erscheint als ein nothwendiger Erfolg, welcher, nachdem einmal geschah, was geschehen ist, unvermeidlich ist. Deshalb wird bei Weitem der größte Theil dessen, was dem Menschen begegnet, als sein S. aufgefaßt, namentlich insofern als die Ursachen u. Verhältnisse, welche seine Existenz, seine Anlagen, die sich ihm darbietenden Gelegenheiten zur Thätigkeit sammt deren glücklichem od. unglücklichem Erfolg, sein Leiden, seine Genüsse u. Entbehrungen bestimmen, stärker u. mächtiger sind, als sein eigenes Wollen u. dieses selbst vielfach bedingen. Hierbei ist jedoch der allgemeine Begriff eines ursachlichen Zusammenhanges nicht aufgegeben, u. deshalb entspricht diese Auffassung dem strengen Begriff des S-s od. Fatum nicht vollständig Dieser beruht auf der Ausschließung jedes ursachlichen Zusammenhanges; er bezeichnet die blinde unentfliehbare Vorherbestimmtheit des Geschehens ohne Grund u. Zweck trotz aller Ursachen, welche außerdem ein anderes Geschehen bedingen würden; was der absolute Zufall für einzelne Ereignisse, ist das S. in diesem Sinne für die Totalität des Geschehens. Die von jeder Verschiedenheit des Causalzusammenhanges u. des Handelns unabhängige, trotz derselben stattfindende Unentfliehbarkeit des vom S. Vorherbestimmten ist das wesentliche Merkmal dieses Begriffes, welcher in dieser Strenge dem Begriffe eines veränderlichen ursachlichen Zusammenhanges gegenüber eigentlich nur innerhalb solcher philosophischen Systeme vorkommt, welche zu einem ursachlosen u. zwecklosen (absoluten) Werden als dem letzten Principe ihre Zuflucht nehmen zu müssen glauben. Die Frage, ob u. in welchem Sinne dem Begriffe des S-s Gültigkeit zu- od. abzusprechen sei, hängt mit der Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens aufs genaueste zusammen (s. Determinismus, Fatum, Freiheit). Vgl. Hugo Grotius, Philosoph. sententiae de fato et deeo quod in nostra est potestate, Amsterd. 1648; Werdermann, Versuch einer Geschichte der Meinungen über S.u. menschliche Freiheit, Lpz. 1793.

Die Idee des S-s als einer geheimnißvollen, unergründlichen Macht über die Geschicke der Menschen ist uralt u. dringt sich dem menschlichen Denken um so unwiderstehlicher auf, je weniger er den Zusammenhang der Ereignisse durchschaut, je unrichtiger er ihn auffaßt (z.B. wenn die Bewegungen u. Constellationen der Gestirne für die Ursache dessen angesehen werden, was dem Menschen begegnet, sogenanntes astrologisches od. chaldäisches S.) u. je weiter er die in einander verflochtenen Reihen der Ursachen rückwärts verfolgt. Den alten Griechen war das S. (Heimarmene, Pepromene, Moira, Aisa) eine dunkle Macht, welcher selbst die Götter unterworfen sind; Hesiodos nennt es das Kind des Erebos u. der Nacht; seine Repräsentanten sind die Schicksalsgöttinnen (Keren, Parzen). Aber indem die Griechen das S. als Nothwendigkeit (Ananke) u. die richtende u. vergeltende Nemesis als eine Äußerung desselben auffaßten, spielt zugleich die Vorstellung eines ursachlichen Zusammenhanges ebenso, wie die Idee einer sittlichen Ordnung der Dinge in ihren Begriff des S-s herein. Das Christenthum verwirft in der Idee eines allweisen, gerechten u. gütigen Gottes die eines blinden S-s; es lehrt eine Vorsehung, obwohl bei den Streitigkeiten über die Prädestination (s.d.) die Seligkeit od. Verdammniß, welche der absolute Rathschluß Gottes jedem vorherbestimme, oft sehr in die Nähe eines blinden S-s gerückt worden ist. Im Islam ist der Wille Allahs die Macht, welche jedem sein S. bestimmt, ohne jede Möglichkeit dasselbe durch eigene Thätigkeit od. Anstrengung abzuwenden od. zu ändern. Religiöse Ansichten, welche sich in dieser Weise dem Fatalismus nähern, müssen, wenn sie auch die Geschäftigkeit des gewöhnlichen Verkehres nicht unterbrechen u. stillestehen machen, doch im Ganzen u. Großen einen lähmenden Einfluß ausüben, weil sie dem Menschen das Bewußtsein rauben, daß sein eigenes Wollen u. Handeln selbst mit ein Glied in der Kette der Ursachen ist. Das S. läßt den Menschen blos als leidend erscheinen, u. ein blindes zweckloses Geschehen ist unfähig ein sittliches Interesse zu erwecken u. zu tragen. Deshalb ist der strenge Begriff des S-s auch unfähig die Grundlage eines tragischen Kunstwerkes zu werden. Jede tragische Handlung beruht auf einem Conflict von sittlichem Gehalte, u. die tragische Katastrophe darf nicht außer allem Zusammenhange mit dem eigenen Wollen u. Handeln des tragischen Helden stehen. Wenn bei den griechischen Tragikern das S. als eine außerhalb des Menschen stehende Macht erscheint, welche Einzelne u. ganze Geschlechter in Unheil u. Verderben stürzt, so geschieht dies nie ohne Beziehung auf das eigene Thun des Menschen; das S. ist in der griechischen Tragödie eine zwar dem Menschen fremde, aber zugleich sittlich waltende Macht, u. in der Entwickelung der griechischen Tragödie bei Äschylus, Sophokles u. Euripides tritt die Schicksalsidee hinter die subjectiven Factoren, welche in dem eigenen Charakter des Handelnden liegen, immer mehr zurück. In Calderons Tragödien tritt nicht selten das Walten der Vorsehung an die Stelle der antiken Schicksalsidee. Die moderne Tragödie seit Shakespeare sucht ihren Schwerpunkt durchaus in dem eigenen Charakter des Handelnden. In der Braut von Messina hat Schiller den Versuch gemacht die antike Schicksalsidee wieder dichterisch zu verwerthen; eine poetische Kraft, wie die seinige, war im Stande die Fehler in der Anlage[150] des Stücke durch lyrischen Schwung u. poetischen Reichthum zu vergüten; die späteren sogenannten Schicksalstragödien, wie z.B. Z. Werners Vierundzwanzigster Februar, Grillparzers Ahnenfrau, Müllners Schuld haben seit 1816 eine Zeitlang unverdienten Beifall, aber sowohl in Platens Verhängnißvoller Gabel eine glückliche u. geistreiche Parodie gefunden, als auch von der ernsten Kritik stets Tadel erfahren, gleichwohl brachte Gutzkow noch 1842 in dem Dreizehnten November u. O. Ludwig 1853 im Erbförster solche Schicksalsspiele. Vgl. Mörlin, Briefe über die Nachbildung der griechischen Tragödie in Schillers Braut von Messina, Altenb. 1804; H. Blümner. Über die Idee des S-s in den Tragödien des Äschylus, Lpz. 1814; K. J. Hoffmann, Das Richtvorhandensein der Schicksalsidee in der alten Kunst. Berl. 1842; Platner, Über die Idee der Gerechtigkeit in Äschylus u. Sophokles. Lpz. 1858.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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