- Urwald
Urwald, der Wald in seinem Ursprungszustande. Frei von jeglicher Einwirkung der Menschen erfolgt in ihm Entstehen, Entwickelung, Leben u. Vergehen der Gewächse von Geschlecht zu Geschlecht ausschließlich nach den Gesetzen der Natur, bedingt durch den Standort (Boden, Lage, Klima), sowie durch die demselben entsprechende Gattung u. Art der Gewächse, unter gleichzeitiger Mitwirkung ausnahmsweiser Naturereignisse, wie Sturm u. Massenschnee. In buntem Durcheinander zeigt der[306] U. die Gewächswelt; von niedrigst (Pilze) bis zu den höchst (Bäume) organisirten Pflanzen, vom zartesten wie vom höchsten Alter, im Zustande des Entstehens wie des Verwesens, in vollkommenster u. riesenhafter wie in verkrüppelter u. zwergartiger Form, in dichtem wie in unterbrochenem Stande auf, durch u. neben einander. Nur die Erfüllung der Gesetze des Pflanzenlebens erscheint im U. als Zweck; Geschlechter entstehen u. vergehen, um andern Platz zu machen, um das Leben neuer Geschlechter vorzubereiten; der ausschließliche Zweck aller übrigen Wälder, u. abgesehen von deren gewichtiger Bedeutung im großen Haushalte der Natur, durch ihre Erzeugnisse dem Menschen dienstbar u. nützlich zu sein, findet in ihm keine Anwendung; in sein schwer zugängliches, weil gleichsam natürliche Verhaue bildendes Innere dringen nur Jäger, Forstmänner, Forscher u. Freunde der Natur, um das in ihm lebende Gethier zu jagen, od. das je nach dem Standorte so großartige, so eigenthümliche, so wunderbare u. noch vielfach räthselhafte Walten der ungestörten, freien, nur sich selbst überlassenen Natur u. insbesondere des Pflanzenlebens zu beobachten u. zu bewundern. In Deutschland dürfte jetzt od. doch bald der U. wohl nur noch in jenen Hochlagen u. Alpengegenden zu suchen sein, wo entweder der Holztransport unthunlich wird, od. die Baumbildung aufhört u. nur noch Krüppelbestände (als Kiefer od. Fichte Latsche genannt) sich entwickeln, denn auch die großen Waldungen bei Krummau in Böhmen, wegen Absatzmangel vor nicht langer Zeit noch unnutzbar u. zum Theil bei ihren riesigen Nadelwaldbeständen mit Recht noch als Urwälder bezeichnet, sind neuerdings aufgeschlossen worden u. werden bald jenen Urzustand verlieren; in den dünn bevölkerten Gegenden von Polen, Rußland, Schweden u. Norwegen aber, sowie vorzugsweise in Amerika kommen noch Urwälder in großartigster Ausdehnung vor. Auch die Tropenländer haben noch Urwälder aufzuweisen, ebenso ausgezeichnet durch riesenhafte Bäume, als eigenthümlich u. malerisch schön wegen der Menge prächtiger u. zum Theil staunenswerth mächtiger Schlingpflanzen, welche ebenso die stehenden Riesenbäume bis in die äußersten Spitzen, als die bereits wieder umgefallenen Stämme u. die üppig wuchernden Unterhölzer dergestalt umschlingen u. oft ganz bedecken, daß diese Wälder undurchdringlich u. nur durch die Axt zugänglich zu machen sind.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.