Rückenmark

Rückenmark

Rückenmark (Medulla spinalis), der im Rückgrathskanal aufgenommene Theil des Nervensystems, welcher durch das verlängerte Hirnmark, eine unmittelbare, aber in der Schädelhöhle liegende Fortsetzung von ihm, mit dem Gehirn in inniger organischer Verbindung steht. Es erstreckt sich vom Hinterhauptsloch an in dem gedachten Kanale bis in die Gegend des ersten od. zweiten Lendenwirbels herab u. endigt hier mit einer stumpfen Spitze (Rückenmarkzapfen, Conus medullae spinalis), welcher meist einfach, zuweilen aber durch einen flachen Querschnitt eingeschnürt ist, wodurch dann auch zwei Knötchen entstehen. Von ihm aus läuft das R. nur noch in einen runden, kaum 1 Linie dicken, aus der weichen Gefäßhaut als Scheide gebildeten, eine höchst seine Schicht weißer Substanz, welche sich aber 2 Zoll unter dem Ursprung des letzten Kreuzbeinnerven verliert, zeigenden Faden (Rückenmarksfaden) aus, welcher zwischen den Anfängen der Lenden- u. Kreuzbeinnerven, welche aber gewöhnlich als Endtheil des R-s angesehen werden u. den Namen des Pferdeschweifs (Cauda equina) führen, von diesen versteckt, bis zum unteren Ende des Rückenwirbelkanals herabgeht u. hier sich an die harte Rückenmarkshaut anheftet. Im Ganzen hat das R. eine cylindrische, doch von vorn nach hinten etwas plattgedrückte Form. Es füllt bei weitem den Rückgrathskanal nicht aus. Man unterscheidet von oben nach unten einen dreifachen Theil desselben: a) den Halswirbeltheil (Pars cervicalis), welcher in dem Kanal der Halswirbel aufgenommen ist; b) den Brustwirbeltheil (Pars thoracica), welcher in dem Kanal der Brustwirbel seinen Fortgang nimmt u. hier verhältnißmäßig am dünnsten u. weniger platt ist; c) den Lendenwirbeltheil (Pars lumbaiis), in dem oberen Theil des Lendenwirbelkanals, wo es vom Neuen anschwillt, dann aber in den Pferdeschweif ausläuft. Man unterscheidet überhaupt eine vordere u. eine hintere Fläche des R-s u. zwei seitliche Ränder. An beiden Flächen verläuft in der Mitte eine Fissur (Fissura med. spinalis mediana anterior et posterior). Auf beiden Rändern bemerkt man ebenfalls zwei Seitenfissuren (Fissurae laterales), welche aber nicht in der Mitte, sondern mehr nach hinten verlaufen, flacher sind, auch sich nur bis in die obere Gegend des Brustwirbeltheiles zeigen. Außerdem sind noch zwei Seitenfurchen (Sulci laterales), eine vordere u. eine hintere, zu bemerken, welche, breiter als die vorigen, durch das ganze R. entlang verlaufen; aus diesen treten Rückennerven heraus. Die hintere, tiefere, bildet die Grenze zwischen dem vorderen u. hinteren Strange des R-s. Das R. erscheint beim ersten Anblick als eine weiche, breiartige Masse; bei genauerer Betrachtung aber zeigt es sich in seinem Bau der Nervensubstanz ähnlich. Wie das Gehirn wird auch das R. aus grauer u. weißer Substanz gebildet; die graue Substanz aber befindet sich hier im Inneren u. wird non der weißen umschlossen. Der Länge nach besteht das R. aus zwei an einander liegenden, durch die gedachten Medianfissuren im größten Theil ihrer Stärke von einander getrennten Strängen, deren Zusammenhang in der Mitte aber durch Querschichten (Commissurae), eine mittlere von grauer, eine vordere u. eine hintere von weißer Substanz gebildete, vermittelt wird. Diese beiden Hauptstränge sind aber wieder aus zwei besonderen zusammengesetzt, welche durch den hinteren Fortsatz der grauen Substanz u. die hintere Seitenfurche von einander abgeschieden werden. Von diesen ist die vordere weit größer, die hintere kleiner u. kürzer, so daß das untere Ende des R-s fast ganz durch jene gebildet wird; beide hintere Stränge sind wieder durch eine[422] flache Spalte in eine größere äußere u. eine kleinere innere Hälfte geschieden. Die hinteren Stränge bleiben in ihrer ganzen Länge jeder auf seiner Seite; dagegen kreuzen sich die vorderen am oberen Ende des R-s in sehr schräger Richtung, wobei sie sich zugleich in 3–5 Fascikel spalten. Diese Kreuzung ist ungefähr 5 Linien lang, geht aber noch immer nicht durch die ganze Masse der vorderen Stränge hindurch. Wie das Gehirn, so ist auch das R. mit eigenthümlichen Häuten (Rückenmarkshäute), nämlich einer harten u. weichen Rückenmarkshaut u. einer mittleren (Spinnewebehaut) umgeben. Die harte Rückenmarkshaut hängt im Hinterhauptloche unmittelbar mit der harten Hirnhaut zusammen u. bildet einen langen, unten geschlossenen u. im Kreuzbeinkanäle zuletzt in eine stumpfe Spitze auslaufenden Sack, welcher durch lockeres Zellgewebe an die innere Fläche der Wirbelsäule angehängt ist, von dem R. aber nicht ausgefüllt wird. Die weiche Rückenmarkshaut ist ebenfalls eine Fortsetzung der weichen Gehirnhaut, ist aber fester u. dicker als diese, bes. unterwärts. Sie umgibt das R. sehr genau u. verhält sich zu ihm, wie das Neurilema (s.u. Nerven 1) zu den Nerven; mittelst ihrer erhält das R. seine Gefäße. Die Spinnewebenhaut kommt hauptsächlich mit der des Gehirns überein, von wo aus sie sich für das R. fortsetzt. Ein eigenes, das R. in seiner losen Lage befestigendes Gebilde ist das gezähnte Band (Ligamentum denticulatum). Es ist nach allen Andeutungen eine Fortsetzung der harten Rückenmarkshaut, geht auf beiden Seiten des R-s als ein weißer, glatter, dünner, abgeplatteter Körper, vom großen Hinterhauptsloche aus, zwischen den vorderen u. hinteren Wurzeln der Rückenmarksnerven herab u. besteht aus dreieckigen Zacken, welche sich zwischen die einander nächsten Hals- u. Brustrückenmarksnerven legen. Aus dem R. treten unterhalb des, in dieser Hinsicht zum Gehirn gerechneten verlängerten Markes, unmittelbar die Rückenmarksnerven (Nervi spinales). Man zählt gewöhnlich 30 Paare: 8 Nacken-, 12 Rücken-, 5 Lenden- u. 5 Kreuzbeinnerven (s.d. a.). Die Rückenmarksnerven entspringen mit zwei Wurzeln, einer vorderen u. einer hinteren, aus der vorderen u. hinteren Seitenfurche jeder Seite des Rückgraths; die hinteren Wurzeln sind die stärkeren. Jede Wurzel besteht aus mehren, durch lockeres Zellgewebe bis zu ihrem Durchgang durch die harte Rückenmarkshaut vereinigten Fäden, od. Bündeln, welche bes. in den vorderen zahlreich u. sein sind. Die Wurzeln sind auf jeder Seite durch das gezähnte Band getrennt. Beide Wurzeln treten durch, in der harten Rückenmarkshaut nahe an einander liegende Öffnungen durch diese hindurch, vereinigen sich u. treten dann durch die Zwischenwirbellöcher hervor, die ersten Nackennerven ausgenommen, welche zwischen dem Hinterhauptsbein u. dem Atlas hervortreten. Die hintere Wurzel schwillt gleich nach ihrem Durchgang durch die harte Rückenmarkshaut in dem Zwischenwirbelloche zu einem länglichrunden Knoten (Ganglia spinalia) an, s. Spinatganglien u. Ganglien. Die Kreuzbeinnerven machen dadurch eine Ausnahme, daß ihre Knoten im Kanale des Kreuzbeines selbst liegen. Nach ihrem Austritte aus dem Rückenmarkskanal spalten sich die Rückenmarksnerven in einen vorderen (den zweiten Nackennerven ausgenommen), größeren u. einen hinteren, kleineren Ast. Diese Aste sind meist bald nach ihrem Austritte durch einen od. mehre Nervenzweige mit dem ober- u. unterhalb gelegenen verbunden, u. es entsteht dadurch längs der Wirbelsäule, neben jedem Wirbel, vor dessen Querfortsätzen eine Nervenschlinge. Sämmtliche Rückenmarksnerven gehen auch Verbindungen mit dem Gangliennerven (s.u. Ganglien 1) ein. Die Rückenmarksarterien (Arteriae spinales) sind theils u. zwar als eine vordere u. eine hintere, welche an der vorderen u. hinteren Fläche des R-s herablaufen, Aste der Wirbelarterien; theils treten durch die Zwischenwirbellöcher accessorische aus den Wirbel-, den Intercostal-, den Lenden- u. Kreuzbeinarterien hinzu. Die Rückenmarksvenen (Venae spinales), bilden um das R. herum eine Menge von Geflechten u. begeben sich mit den Nerven durch die Rückenmarkshaut; dann bilden sich zwischen der harten Rückenmarkshaut u. der Wirbelsäule eigene Venenringe, welche durch Zusammentritt einer vorderen u. einer hinteren queren Vene entstehen u. welche durch zwei absteigende Venen auf beiden Seiten zu einem Ganzen (Sinus venosus columnae vertebralis) verbunden sind.

Das R. ist im Verhältniß zum Körper um so dicker u. länger, je jünger der Organismus ist. Es füllt bis zum dritten od. fünften Monat beim Embryo die ganze Länge des Rückenmarkskanals bis zum Steißbein aus u. hat erst im achten Monat sich bis auf den Punkt, bis zu welchem es später ungetheilt herabreicht, zurückgezogen. Mit der zunehmenden Entwickelung tritt das R. gegen das Gehirn zurück, so daß es sich beim dreimonatlichen Embryo gegen das Gehirn wie 1 zu 18, im reisen aber wie 1 zu 107 verhält. Es kommt früher zur Vollendung als Gehirn u. Nerven. Man nimmt ziemlich allgemein an, daß sich das Gehirn aus dem R. entwickelt; dahin deutet auch die allmälige Entwickelung dieser Organe in der Thierreihe; doch leidet dies auch Beschränkung, u. man kann eben so behaupten, daß R. u. Gehirn organisch sich neben einander, jenes aber früher, ausbilden. Wie das Gehirn, schwillt auch das R., bes. während des Ausathmens, an. Das R. findet sich bei allen Thieren, die niedrigste Klasse der Polypen (Zoophyten) u. mikroskopische Thiere ausgenommen. Bei den wirbellosen liegt es längs des Bauches (Bauchmark). Bei den Amphibien überwiegt es auffallend das Gehirn, u. auch in den höheren Thierklassen findet ebenfalls ein Überwiegen statt; daher füllt es auch fast durchgängig den Kanal der Wirbelsäule aus; doch ist es auch bei einigen kürzer als die Rückgrathshöhle. Das R. ist ein für das Leben unentbehrlicher Theil. Es wirkt durch die von ihm ausgehenden Nerven eben so nach außen, als es Eindrücke von außen erhält. Die meisten willkürlichen Muskeln, namentlich die des Rumpfes u. der Extremitäten, bekommen ihre Nerven vom R. Daher hört, wenn das R. oberhalb der Ursprungsquellen seiner Nerven quer durchschnitten wird, alle Bewegung unterhalb derselben entweder sogleich auf, od. das Leben erlischt hier unter Convulsionen. Durch mechanische od. galvanische Reize des R-s werden ebenfalls in den Theilen, zu welchen vom R. aus unterhalb der gereizten Stelle Nerven gehen, Krämpfe bewirkt; bei stärkerer mechanischer Einwirkung, wie durch Druck, entsteht Lähmung in den Muskeln dieser Theile. Das ursprünglich Bestimmende für die Muskelbewegung im ganzen Körper ist aber das Gehirn, u. das R. verhält sich hierbei[423] blos als ein Leiter des von jenem kommenden Impulses. Eben so vermittelt es aber auch die Wahrnehmung von Eindrücken auf das sinnliche Gefühl in den Theilen, zu welchen es Nerven abgibt. Aber auch auf das Athmen hat das R., wegen des Antheiles, welchen daran Muskeln nehmen, welche von ihm aus Nerven bekommen, großen Einfluß. Auf das Herz u. die Gefäße aber hat es wenigstens durch seine Verbindung mit den Gangliennerven (s.d.), mit den von ihm oberwärts ausgehenden Nerven einigen Bezug, aus gleichen Ursachen auch auf die Ernährung. Immer sind daher Verletzungen des R-s um so mehr beeinträchtigend für das ganze organische Leben, je höher im Rückgrathskanal die Verletzung statt hat, u. bedeutende Verletzungen innerhalb des Kanals der Halswirbel sind daher immer tödtlich.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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