Vorfall

Vorfall

Vorfall, 1) eine unvermuthete Begebenheit; 2) an Taschen- u. Stutzuhren ein stählerner Theil, welcher in die Schneckenschnauze greift u. dadurch bewirkt, daß die Schnecke beim Aufziehen nicht etwa zu weit herumgedreht u. die Kette od. die Feder zersprengt wild. Wenn die über den V. weggehende Kette auf den obersten Gang der Schnecke gewunden wird, drückt sie dieselbe gegen die Schneckenschnauze. Wenn beim Gehen der Uhr die Kette sich von der Schnecke abwindet, so wird der V., frei, da er beweglich in dem Vorfallklöbchen steckt u. von der Vorfallfeder etwas gehoben wird; 3) (Prolapsus), Austritt eines Eingeweides frei nach Außen, zum Unterschied vom Bruch (Hernia), welcher von den Hautdecken umgeben ist, zumeist auch noch in einem besonderen Sacke (Bruchjacke) eingeschlossen ist. Die Ursache des V-s sind Trennung der deckenden Theile, z.B. bei Wunden, od. Nachgeben der befestigenden Theile, z.B. der Muskeln, der Häute, od. Erweiterung natürlicher Öffnungen. Der V., kann unvollkommen od. vollkommen sein, u. je nach diesem Grade werden die Folgen verschieden sein. Der V. erfordert Zurückbringung (Reposition) des aus seiner Lage gekommenen Organs u. die Erhaltung in der normalen Lage (Retention), was durch mechanische od. sonstige Heilmittel geschieht. Die wichtigsten Vorfälle sind: A) am Schädel: V. der harten Hirnhaut (Prolapsus durae matris), bestehend in einem Hervortreten der harten Hirnhaut entweder bei Schädelwunden od. in Folge einer Ausdehnung bei Wasseransammlung durch die erweiterten u. von einander gewichenen Nähte u. Fontanelle hindurch; B) am Auge: a) V. des Augapfels, s. Augenvorfall; b) V. des oberen Augenlides, s. Augenlidvorfall; c) V. der Choroidea (P. choroideae, Hernia choroid), Hervortreten der Aderhaut des Auges durch einen Riß in der Sclerotica; gibt sich als eine kleine bläulich schwarze beerenförmige Geschwulst in dem Weißen des Auges zu erkennen; verschwindet öfter von selbst wieder, wenn nicht, wird es mit dem Messer abgetragen; d) V. der Hornhaut (Ceratocele), s. Hornhautbruch, e) V. des Thränensacks, s. Thränensackbruch; f) V. der Iris, s. Starhylom; g) V. der Krystalllinse (P. lentis crystallinae), Austritt der Krystalllinse durch die zerrissene Kapsel in die vordere Augenkammer unter Schmerz, Lichtscheu, allmäliger Verdunklung derselben u. in dessen Folge Blindheit, meist in Folge heftiger Erschütterung des Kopfes, wie bei Fallen, Niesen, Erbrechen, Husten. Die Linse wird wie bei der Staaroperation beseitigt. h) V. des Glaskörpers (P. corporis vitrei), erkenntlich als kleine, durchsichtige, mit einer hellen Flüssigkeit gefüllte Geschwulst am Augapfel vor der Sclerotica od. der Hornhaut, wobei die wässerige Feuchtigkeit theilweis ausgeflossen ist, die Linse (wie z.B. nach Staaroperationen) entfernt od. die Iris gespalten od. vorgefallen sein muß. Ursachen sind Schnittwunden der Cornea od. Sclerotica, Öffnungen durch Geschwüre, Krampf der Augenmuskeln od. zu starkes Drücken des Operateurs bei der Staarextraction. Ein kleiner V. hat nichts zu sagen, liegt aber 1/3 des Glaskörpers vor, so ist Synizesis u. Blindheit die Folge. C) Am Halse: V. des Zäpfchens (P. uvulae), bestehend in Verlängerung des Zöpfchens bei entzündlichen Zuständen, s. Bräune (Zapfenbräuue); D) am Rumpfe: a) V. des Herzens, s. Herzbruch; b) V. des Magens, s. Magenbruch; c) V. des Nabels, s. Nabelvorfall; d) V. der Nabelschnur, s. Nabelschnur; e) V. der Gebärmutter (P. uteri, Hysteroptosis), Senkung der Gebärmutter in die Scheide hinab. Je tiefer die Gebärmutter herabrückt, desto mehr muß die Scheide dabei umgestülpt werden; aber auch die Gebärmutter kann sich dabei umstülpen, so daß der Grund derselben mehr od. weniger durch den Mund derselben tritt. Man unterscheidet daher: aa) V. der Gebärmutter ohne Umstülpung, welche wieder unvollkommen od. vollkommen sein kann. Bei dem ersteren leichteren Grade hat sich die Gebärmutter[685] in die Scheide gesenkt, wobei letztere mehr od. weniger umgestülpt ist. Der Zustand gibt sich durch Pressen u. Drängen zum Harnen u. zum Stuhl zu erkennen, durch besondere Beschwerden zur Zeit der monatlichen Reinigung, durch Störungen derselben, Gebärmutterblutflüsse, Weißen Fluß u. andere Unterleibsbeschwerden. Ursachen sind schwere, übereilte, kunstwidrig vollendete Geburten, Heben u. Tragen schwerer Lasten, starker Husten, vor allem aber zu frühes Aufstehen aus dem Wochenbett, häufiges Abortiren Bei frischem V. gelingt es den in seine normale Lage gebrachten Uterus einfach durch ruhiges Verhalten in horizontaler Lage u. durch Anwendung zusammenziehender, stärkender Mittel zu erhalten; ist der V. veraltet, so muß ein Mutterkranz eingelegt werden. Beim V. der schwangeren Gebärmutter ist horizontale Lage mit erhöhtem Kreuz u. Vermeidung starken Drängens bei der Geburt nothwendig. Beim vollkommenen V. liegt die ganze Gebärmutter vor, die Scheide ist herabgezogen u. bedeckt die Geschwulst; die mit der Gebärmutter in Verbindung stehenden Unterleibsorgane haben ihre normale Lage verloren u. die Geschwulst wird durch ihr Herabhängen u. durch ihre Schwere lästig. Alle oben erwähnten Übelstände treten in verstärktem Maße ein, außerdem entsteht durch Zutritt der Luft, durch Reiben der Schenkel beim Gehen u. durch Benetzung mit Harn Entzündung u. Anschwellung des V-s, in Folge davon starke Schleimabsonderung, Geschwürsbildung, bei Einklemmung sogar Brand u. im günstigen Falle Abstumpfung, Unempfindlichkeit des vorgefallenen Theiles. Die Behandlung hat die entzündlichen Erscheinungen zu beseitigen u. dann die Reposition mit Anlegung eines Mutterkranzes vorzunehmen. Gegen nicht zurückgebrachten V. dienen Suspensorien bb) V. der Gebärmutter mit Umstülpung, meist unvollkommen, so daß der Grund der Gebärmutter mehr od. weniger durch den Muttermund getreten ist. Bei vollkommener Umstülpung zeigt sich an den äußeren Geschlechtsteilen eine birnförmige rothe Geschwulst, die gänzlich durch den Muttermund getretene Gebärmutter. Zuweilen entsteht die Umstülpung, schnell u. es erfolgen dann heftige Schmerzen, Blutflüsse, Entzündung, Anschwellung, Erbrechen, Ohnmächten, Convulsionen, Brand u. selbst der Tod; bei langsamem Entstehen erfolgen Stuhl- u. Harnbeschwerden, Weißer Fluß, Störungen der monatlichen Reinigung, Entzündungen, Verschwärungen, Entartungen der Gebärmutter. Ursache sind übereilte Entbindungen bes. in aufrechter Stellung, zu kurze Nabelschnur, gewaltsame Entfernung der Nachgeburt, Zerren am Nabelstrange etc. Früher wurde zuweilen eine von Marshall Hall empfohlene Operation, die Elytrorrhaphie, angewendet, bestehend in Ausschneiden eines Theiles der Schleimhaut od. auch der Scheide in ihrer ganzen Dicke mit Anlegung von Nähten, doch ist sie als nicht ungefährlich wieder verlassen worden. Dieffenbach wendete das Glüheisen mit Erfolg an, um dadurch narbige Zusammenziehungen hervorzurufen. Eine andere Operationsmethode ist die von Fricke eingeführte Episiorrhaphie u. hat den Zweck durch eine Schamlippennaht den Eingang der Scheide soweit zu verengen, daß die Gebärmutter in derselben zurückgehalten wird, doch wird dadurch zwar das Hervortreten des vorgefallenen Organs behindert, nicht aber dessen Herabsinken überhaupt beseitigt. f) V. der Mutterscheide (P. vaginae), Senkung der Schleimhaut od. aller Schichten der Mutterscheide u. Bildung einer entweder in der Mutterscheide noch befindlichen (unvollkommener V. der Mutterscheide) od. aus ihr heraustretenden (vollkommener V. der Mutterscheide) Geschwulst, welche Beschwerden beim Gehen, Stehen, beim Coitus u. allerlei Schmerzempfindungen hervorruft. In veralteten Fällen wird die Schleimhaut dick, verhärtet u. entzündlich. g) V. der Harnblase (P. vesicae), so v.w. Harnblasenumstülpung, s.d. Der erworbene V. der Harnblase (P. vesicae acquisitus), selten u. nur bei Frauen als runde, blasige, mit Harn gefüllte, die Harnröhre verstopfende u. Harnverhaltung veranlassende Geschwulst u. zwar in Folge des V-s der Blasenhäute durch die weite weibliche Harnröhre meist in Folge von Entbindungen od. durch Schlaffheit der betreffenden Theile bedingt; dieser V. bedingt Harnbeschwerden, Entzündung u. Eiterung, Die Behandlung besteht in Reposition, Einlegung von Bougies, Mutterkränzen u. Anwendung örtlicher u. allgemeiner Stärkungsmittel. h) V. des Afters (P. ani, P. intestini recti), besteht in einer durch Erschlaffung des Mastdarms u. seiner Muskeln herbeigeführten Umstülpung (Inversion) der Mastdarmhäute u. Hervortreten derselben durch den Schließmuskel; er betrifft entweder sämmtliche Häute od. am häufigsten die Schleimhaut allein, ist weniger schmerzhaft als beschwerlich, öfter auch zu Blutungen, Entzündungen u. Verschwärungen, selbst zu Brand führend. Kinder u. Greise leiden nicht selten daran. Ursachen können sein häufiges u. heftiges Drängen beim Stuhlgang, Ruhr. Tenesmus des Afters, Desorganisation des Mastdarms, Scheidenvorfall, Blasensteine, starkes Schreien, Husten, Blasen von Instrumenten, schwere Geburten, sowie heftiger Schreck mit Lähmung des Schließmuskels, Bei frisch entstandenem V. bringt man denselben zurück u. sucht ihn durch eigene Mechanismen zurückzuhalten u. dieses durch Ruhe, leichten Stuhlgang, zusammenziehende Mittel zu unterstützen. Bei gleichzeitiger Entzündung u. Anschwellung sind zuvor entzündungswidrige Mittel anzuwenden. Auch hat man versucht durch Ausschneiden einiger nahe am After gelegenen Falten der Schleimhaut, wodurch verengende Narben entstehen, den V. des Afters zu heilen. Bei sehr veralteten u. bereits degenerirten Vorfällen wird das vorgefallene Stück abgetragen od. abgebunden. Zuweilen stülpt sich ein höher gelegenes Darmstück (das untere Ende des Grimm od. Blinddarms) um, es entsteht eine Einstülpung (Invagination od. Intussusception) in den Mastdarm hinein u. kann der eingestülpte Darm durch den After hervortreten. Diese Umstülpung tritt meist rasch nach vorausgegangenen Kolikschmerzen u. Darmreizungen ein.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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