- Chénier
Chénier (spr. Schenich), 1) Louisde Ch., geb. 1723 in Montfort, bei Toulouse; ging als Kaufmann nach Constantinopel, trat dann in die Dienste des Grafen Desalleurs, französischen Gesandten bei der Pforte, u. ward nach dessen Tode 1753 Generalconsul u. Resident daselbst; 1764 nach Frankreich zurückgekehrt, begleitete er den Grafen Brugnon nach Marokko, von wo er 1784 zurückkehrte, verwaltete während der Revolution. einige Ämter u. pflegte in seinen Salons die Notabilitäten der gelehrten Welt zu versammeln. Erst 1796 u. schr.: Recherches hist. sur les Maures et hist. de l'empire de Maroc, Par. 17873 Bde. (deutsch Lpz. 1788); Révol. de l'empire othoman, ebd. 1789. 2) Marie André de Ch., Sohn des Vorigen, geb. 1762 in Constantinopel, trat 1782 in französische Kriegsdienste, nahm aber bald wieder seinen Abschied, um sich den Wissenschaften u. der Dichtkunst zu widmen; nachdem et kurze Zeit Attaché der französischen Gesandtschaft in London gewesen war, kehrte er 1791 nach Frankreich zurück; hier stellte er sich den extremen Royalisten ebenso entgegen, wie den wüthenden Jacobinern u. vertheidigte die Königswürde; Ludwigs XVI. Berufung an das Volk ist von Ch. abgefaßt. Mit seinem Bruder gerieth er in Bezug[909] auf ihre politischen Ansichten seit 1791 in Widerspruch, doch söhnten sich Beide, als der Terrorismus um sich griff, wieder aus. Josephs Popularität schützte André eine Zeit lang vor den Jacobinern, die ihm nach dem Leben trachteten; als aber der Erstere ebenfalls der herrschenden Partei verdächtig wurde, erfolgte 1793 des älteren Bruders Verhaftung. Im Gefängnisse schrieb Ch. mehrere seiner schönsten lyrischen Gedichte. Er wurde 2 Tage vor Robespierres Sturz am 24. Juli 1794 guillotinirt. Während seines Lebens wenig beachtet, erregten seine Poesien, als sie 1819. zum ersten Male gesammelt erschienen, allgemeine Bewunderung u. übten einen bedeutenden Einfluß auf die spätere Entwickelung der lyrischen Dichtung in Frankreich aus. Vollständig gesammelt erschienen seine Gedichte, Par. 1834, 2 Bde.; seine prosaischen Werke herausgegeben von P. Lacroix, 1840. 3) Marie Josephde Ch., des Vor. Bruder, geb. 1764 in Constantinopel; zur militärischen Laufbahn bestimmt, verließ er jedoch den Dienst schon nach zwei Jahren, um sich ganz der Literatur u. Dichtkunst zu widmen Ein unbegrenzter Ehrgeiz u. eitle Ruhmsucht trieben ihn, kein Mittel unversucht zu lassen, um sich einen Namen zu verschaffen. Obgleich sein erstes Drama, Edgar ou le page supposé, 1785 gänzlich Fiasco machte, ließ er sich doch. von neuen Versuchen nicht abschrecken. Es erging ihm indeß 1786 mit Azémire nicht besser. Daß dasselbe bei Hofe ausgezischt worden war, reizte ihn so sehr, daß er seinen Adel ablegte u. sich den Kreisen anschloß, welche damals in ihren Schriften die Revolution vorbereiteten. Die Aufführung seiner neuen Dramen, Heinrich VIII u. Karl IX., wurde 1789 von der Censur aus politischen Gründen untersagt. Von Danton unterstützt u. auf geschickte Weise das Interesse, des Publicums für das verbotene Stück anregend, errang er endlich die Zurücknahme des Verbots, u. am 4, November ging sein Karl IX über die Bühne. Die Aufführung ist insofern noch bemerkenswerth, als Talma darin zum ersten Male in einer Hauptrolle auftrat u. Mirabeau den ungeheueren Beifall veranlaßte, welcher dem Stücke zu Theil wurde. Von nun an schloß sich Ch. der extremen Revolutionspartei an u. brachte noch mehrere Stücke auf die Bühne, deren Erfolg weniger dem poetischen Werthe, als der politischen Tendenz beizumessen ist. In der Nationalversammlung stimmte er für den Tod des Königs. Doch änderte sich zur Zeit der Schreckensherrschaft seine Stellung zu der Partei, die er u. die ihn bisher unterstützt hatte. Die Jacobinische Municipalität verbot die Aufführung seines Cajus Gracchus u. Timoleon, weil Stellen darin vorkamen, in denen man eine scharfe Polemik gegen das herrschende System fand. Um diese Zeit dichtete er sein durch Mehuls Composition berühmt gewordenes Volkslied Le chant du depart, u. sein Loblied auf das höchste Wesen (die Vernunft). Mit seinem Bruder Andre, der im Journal de Paris mit der Satyre gegen den Jacobinismus zu Felde zog, seit 1791 zerfallen, söhnte er sich jetzt mit ihm aus. Zwar hatte er nicht den Muth, den Auftrag zur Einbringung eines Gesetzesvorschlags, wonach Marat an Mirabeaus Stelle ins Panthéon aufgenommen werden sollte, abzulehnen, entledigte sich desselben aber in einer solchen Weise, daß er den Anhängern Marats dringend verdächtig wurde. Der 9. Thermidor rettete ihn vor Verfolgung u. brachte die Aufführung seines Timoleon. Als seine politischen Gegner ihn verdächtigten, als habe er Theil an dem Befehl zur Hinrichtung seines Bruders gehabt, antwortete er mit den beiden Satyren Epitre sur la calomnie u. Le docteur Pancrace. Unter dem Consulat wurde er Mitglied der Akademie u. entsagte seit 1802, wo er sich in einer Satyre Les nouveax saints gegen Chateaubriand wandte, der politischen Laufbahn. 1804 fiel er bei Napoleon, der ihm eine Anstellung gewährt hatte, durch sein politisch gefärbtes Drama Cyrus in Ungnade. In Folge dessen wurde auch die Aufführung seines letzten u. besten Dramas, Tiberius, untersagt. Seine geistreiche Satyre, eine Epistel an Voltaire, brachte ihn um seine Stelle u. in die äußerste Noth. Napoleon ließ sich indeß bewegen, dem Dichter eine Pension zu Theil werden zu lassen, u. die Akademie beauftragte ihn mit der Abfassung einer Geschichte der Französischen Literatur seit 1789. Ch. hatte wesentlichen Antheil an der Einrichtung der Primärschulen u. der Organisation des Nationalinstituts u. starb 10 Januar 1811. Seine dramatischen Werke erschienen gesammelt, Par. 1808, 3 Bde.; seine lyrischen Gedichte 1797; Poésies diverses, ebd. 1818, u.ö.; Tableau hist. de l'état et des progrès de la littérature franç. depuis 1789, Par. 1818, 6. A. 1834; Fragmens du cours de lit., ebd 1818; Oeuvres, 1823–26, 8 Bde.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.