Thierarzneikunde

Thierarzneikunde

Thierarzneikunde (Thierheilkunde, Veterinärkunde), der Inbegriff der Kcnntnisse die Krankheiten der Thiere, bes. der Hausthiere, richtig zu erkennen, zu verhüten u. zu heilen. Die T., für den Staat im Allgemeinen, namentlich aber für den Landwirth von Wichtigkeit, ist auch für den Menschenarzt nicht ohne Wichtigkeit, weil die Krankheiten bei den Thieren reiner auftreten, als bei den Menschen, weil manche Thierkrankheiten auch auf den Menschen übergetragen werden können (Kuhpocken, Hundswuth, Milzbrand, Rotz etc.), u. weil nicht selten größere Epidemien ebenfalls unter den Thieren auftreten u. hierdurch zur bessern Kenntniß der Volkskrankheiten beitragen können (wie das Erkranken der Hühner vor dem Ausbruch der Cholera). Die T. umfaßt nicht allein alle Wissenschaften der Menschenheilkunde, als: Anatomie, Physiologie, Pathologie, Therapie, Chirurgie, sondern auch die Hülfswissenschaften, als Zootomie, Zoologie, Botanik, Chemie etc. Obgleich die Zergliederung der Thiere weit früher, als die des menschlichen Körpers vorgenommen wurde u. in der That das erste Licht über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers verbreitete, so ist doch die T. lange Zeit in den Händen der Hirten u. Abdecker, die Roßarzneikunde aber in den Händen der Hufschmiede. geblieben. Bei den griechischen Schriftstellern findet man schon Spuren der T., bes. der Pferdeheilkunde; Xenophon führt griechische Thierärzte, z.B. Simson von Athen, an; der griechische Kaiser Constantinus Porphyrogenetes veranstaltete die Sammlung der Schriften der Vorzeit (Hippiatrika). Auch Hippokrates beschäftigte sich mit der Zergliederung der Thiere, u. Galen machte von solchen Zergliederungen Anwendung auf den Menschen; Aristoteles gibt in seiner Naturgeschichte viel Aufklärung über den damaligen Stand der T.; jedoch ist Columella der erste, welcher einen Abschnitt in seinem Werke: De re rustica, über die Krankheiten der Pferde u. Kühe hat. Im 4. Jahrh. n. Chr. schrieb Vegetius De arte veterinaria s. Mulomedicina. Während des Verfalls der Wissenschaften geschah nichts in der T. Im 16. Jahrh. erschien ein Werk von Carlo Reyni über die Zergliederung des Pferdes (Anatomia del cavallo, infermita et suoi remedi, Bologna 1598) u. von da beschäftigten sich bes. Stallmeister in Frankreich u. England mit der Roßarzneikunde. Als im Anfange des 18. Jahrh. Viehseuchen, bes. die Rinderpest, sich fast über ganz Europa verbreitete, forderten die Regierungen die Ärzte jener Zeit zur Erforschung u. Bekämpfung der Seuchen auf, namentlich schrieben darüber Ramazzini u. Lanzisi in Italien, Sauvages in Frankreich, Camper in Holland, Schröck in Deutschland. Zu der Entstehung der jetzigen T. trug aber auch der Umschwung im landwirthschaftlichen Betriebe, namentlich die Einführung fremder werthvoller Viehracen, z.B. der Merinoschafe, sowie der Umschwung der Naturwissenschaften im Allgemeinen u. der Medicin insbesondere, hervorgerufen durch Linné, Haller, Buffon, d'Auburton etc., bei, welcher Letztere die Errichtung von Thierarzneischulen forderte. Die erste Thierarzneischule wurde 1762 durch Bourgelat in Lyon gegründet; bald darauf, 1765, folgte die zu Alford bei Paris. In Deutschland trat die erste Thierarzneischule 1769 zu Wien ins Leben; ihr folgten 1773 die in Kopenhagen, 1774 die in Dresden, in den 1790er Jahren die in Berlin, Hannover, München, Stuttgart, Karlsruhe etc. In diesen Thierarzneischulen bildete man Thierärzte, welche zwar mit mancherlei Kenntnissen ausgerüstet waren, es fehlte ihnen aber die praktische Tüchtigkeit u. Brauchbarkeit, wie sie Staat u. Landwirth verlangte u. bedurfte. Das empirische Material bezog sich hauptsächlich auf die Roßarzneikunde. Von einer wissenschaftlichen Begründung der T. war erst seit Pessina, Waldinger, Gräbe, Viborg die Rede. Mit gleichen Schwierigkeiten wie die Entwickelung der T. hatte auch der Stand der Thierärzte in seiner Entwickelung zu kämpfen, welcher in der frühern Zeit ein wenig geachteter od. gar verachteter war. Erst nachdem sich einzelne Regierungen entschlossen junge gebildete Männer für das Studium der T. durch Unterstützung aller Art, bes. aber dadurch zu gewinnen, daß sie Klassen von Thierärzten einführten u. thierärztliche Beamtenstellen verschiedener Grade schufen, ist es in dieser Beziehung besser geworden. In neuester Zeit erlitt die T. einen Umschwung dadurch, daß die übergroßen u. in vielen Fällen schädlich wirkenden Gaben allopathischer Heilmittel durch die homöopathische Heilmethode mehr u. mehr verdrängt wurde. Unter den Schriftstellern über T. zeichnen sich aus: Abildgaard, Adami, Ammon, von Ampach, Blaine, Bojanus, Bourgelat, Bredin, Brugnon, Busch, Clark, Coleman, Dietrichs, Dupuy, Erdely, Erxleben, Falke, Fechner, Flandrin, Frenzel, Fuchs, Gasparin, Gerlach, Gibson, Girard, Gohier, Günther, Gurlt, Hartwig, Haubner, Havemann, Hering, Huzard, Justinus, Kausch, Körber, Kersting, Kreutzer, Lafosse, Langenbacher, Langermann, Naumann, Niemann, Petri, Prinz, Rohlwes, Rueff, Rychner, Ryß, Schäfer, Schwab, Spinola, von Tennecker, Tessier, Tolnay, Träger, Tscheulin, Veith, Viborg, Vitet, Wagenfeld, Waldinger, Walz, White, Will, Wolstein etc. Vgl. Die Hippologische Literatur, Lpz. 1863.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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