Indogermanische Sprachen

Indogermanische Sprachen

Indogermanische Sprachen, die durch Urverwandtschaft unter einander verbundenen Sprachen einer großen Anzahl von Völkern, welche einen ansehnlichen Theil Asiens, sowie fast ganz Europa bewohnen u. von Europa aus sich auch nach Amerika u. Australien, sowie Theilen Afrikas verbreitet haben. Der Sprachstamm wird häufig auch der Indoeuropäische od. der Arische, von Einzelnen auch der Japhetische od. Mittelländische genannt. Dieser große Sprachstamm zerfällt wieder in drei Hauptgruppen, die sich dann weiter in acht große Äste spalten. A) Die asiatische Hauptgruppe od. Arische (im engeren Sinne), welche sich in zwei Äste zerlegt: a) Die Indische Familie, welche die I-n S. Vorderindiens umfaßt. An der Spitze derselben steht das Sanskrit (s.d.), zu welchem sich die Sprachen des indischen Mittelalters od. die Prakritsprachen (einschließlich des Pali) wie Töchter, die neueren Indischen Sprachen (Hindi mit Hindustani, Bengali, Guzerati, Mahrattisch, Orissa. Pendschabi, Sindhi etc. [s. Indische Sprachen]) aber wie Enkelinnen verhalten. Mit der Cultur der arischen Inder gewann auch das Sanskrit einen tiefeingreifenden Einfluß auf die Sprachen der nichtarischen Völker Vorderindiens, sowie auf Theile Hinterindiens u. des Indischen Archipels. Das Kawi auf Java u. den Nachbarinseln ist seinem Bau nach zwar eine Malayische Sprache, aber im Wörterschatz zum großen Theile indisch. Mit dem Buddhismus kam das Pali als Sprache der Geistlichkeit nach Ceylon, Birma, Siam u. Laos, während das Sanskrit den Priestern derselben Religion in ganz Tibet, China, Annam, Japan, Korea, indirect selbst bei den Mandschu, Mongolen u. Kalmyken bekannt wurde. b) Die Iranischen Sprachen (s.d.), von Einigen auch Medopersische od. Arische Sprachen genannt, als deren beide ältesten Glieder das Zend (s.d.) od. Altbaktrische u. das Altpersische auf den Keilinschriften der Achämeniden erscheinen. Dem Neupersischen ging als Sprache des Staates das Pehlewi od. Huzvaresch voraus. Zu den Iranischen Sprachen gehören auch noch das Afghanische od. Puschtu, das. Kurdische u. die Sprache des Gebirgsvolkes der Osseten im Kaukasus. Das Armenische ist ebenfalls iranischen Stammes, wenn auch dessen Verhältniß zu den übrigen Gliedern der Familie noch nicht näher untersucht ist. Das Georgische bildet einen Sprachstamm für sich, hat aber viele iranische Einflüsse erfahren. Nicht geringe persische Bestandtheile scheinen auch die Semitischen Sprachen der alten Babylonier u. Assyrier enthalten zu haben. Ob u. inwieweit verschiedene ältere Sprachen Kleinasiens, wie das Lycische, Lydische, Pamphylische u. Phrygische zu der Iranischen Gruppe gehören, od. eine eigene Familie für sich bilden, od. wenigstens zum Theil den thracisch-illyrischen od. hellenischen Familien zuzuzählen sind, läßt sich bis jetzt noch nicht entscheiden. B) Die südeuropäische Hauptgruppe, welche wiederum in vier Aste zerfällt: c) Die Sprachen des Thracisch-illyrischen Stammes sind bis auf das Albanesische untergegangen u. die wenigen Spuren, zu denen vielleicht auch das Messapische od. Japygische im südöstlichen Italien gehörte, noch wenig durchforscht. Ihr Gebiet wurde allmälig d) von der Hellenischen od. Griechischen Familie (auch wohl pelasgisch genannt) eingenommen, welche durch das Griechische glänzend vertreten wird. Zu reichster Blüthe hat sich e) die dritte südeuropäische Familie, die Italische od. Lateinische (s.d.), entfaltet. Den Ausgangspunkt bilden die altitalischen Sprachen mit dem Latein an der Spitze. Aus letzterem gingen als Töchter während des Mittelalters die Romanischen Sprachen (s.d.) hervor, unter denen das Italienische, Französische, Spanische u. Portugiesische zu höchster literarischer Entwickelung u. größter Verbreitung gelangten, während das Provenzalische als Literatursprache mit Ausgang des [894] Mittelalters erlosch u. das Walachische erst seit kürzerer Zeit bessere Pflege erhält. Im Untergehen begriffen sind dagegen f) die Celtischen Sprachen, als deren Trümmer noch gegenwärtig das Bretonische im äußersten Nordwesten Frankreichs, das Irische in Irland u. das Gaelische in Hochschottland, sowie das Kymrische in Wales von einem Theile des Volkes gesprochen werden. C) Die nordeuropäische Hauptgruppe, welche zwei mächtige Familien, die germanische u. die litu-slawische, umfaßt. g) Die Germanischen Sprachen (s.d.), welche man in drei Zweige, den erstorbenen ostgermanischen (mit dem Gothischen), den nordgermanischen od. skandinavischen (Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Isländisch) u. den südgermanischen (Hochdeutsch, Niederdeutsch, Niederländisch u. Englisch) gruppirt, stehen im Begriff, sich zur Herrschaft über alle übrigen Sprachen zu erheben. Das Englische (mit seiner dreifachen Culturstätte in England, Nordamerika u. Australien) kann bereits als die allgemeine Verkehrssprache für die gesammte Handelswelt betrachtet werden, während das Deutsche, gestützt auf seine nationale u. wissenschaftliche Literatur, sich zur Weltsprache für den geistigen Austausch emporzuschwingen sucht. Räumlich zwar über einen großen Theil der Erde verbreitet, aber intensiv weniger bedeutend als die Germanischen Sprachen, sind h) die Litu-slawischen Sprachen. Sie zerfallen in zwei Unterabtheilungen, von denen die eine, die Lithauische od. Baltische (Lithauisch, Lettisch, das ausgestorbene Preußische) es zu keiner höheren literarischen Entwickelung gebracht hat, während die zweite od. Slawische allein vier Schriftsprachen (Böhmisch, Polnisch, Russisch, Serbisch) mit blühenden Literaturen umfaßt.

Die Familien, Gruppen u. viele Einzelsprachen indogermanischen Stammes sind sämmtlich Abkömmlinge einer einzigen Mutter, deren Natur sich aus der Gesammtheit ihrer Töchter erschließen läßt. Diejenige Tochter, welche die meiste Ähnlichkeit mit ihrer Mutter bewährt hat, ist das Sanskrit, namentlich in seiner ältesten Gestalt (in den Vedas). Die Verschiedenheit der acht einzelnen Sprachfamilien entstand nicht durch gleichzeitige Absonderung, sondern durch allmälige Abästung vom Hauptstamm. Die nordeuropäischen Sprachen erweisen sich als am stärksten von der Grundform der I-n S. verschieden. Sie müssen sich also, noch ehe sie sich in Germanisch u. Litu-Slawisch spalteten, zuerst vom indogermanischen Urstamme, dessen Heimath in den Hochländern im Nordwesten Indiens nördlich des Hindukuh zu suchen ist, losgetrennt haben u. das Volk, welches sie sprach, trat wohl zuerst seine Wanderung aus der Urheimath an. Der zurückbleibende Stock beschloß die Keime der später zu gesondertem Dasein heraustretend en südeuropäischen u. asiatischen Äste in sich. Als letztere Ausscheidung wirklich erfolgte, blieb der eine Theil, der arische, in Asien zurück, während der andere die Wanderung nach Südeuropa antrat. Der arische Ast spaltete sich später, aber immer noch in vorgeschichtlicher Zeit, wieder in Indisch u. Iranisch, während der südeuropäische Ast (der gräco-italo-celtische od. pelasgo-celtische) sich weiter zerlegte. Zunächst differentiirte sich derselbe (die Verhältnisse des Thracisch-Illyrischen od. Albanesischen sind bis jetzt noch nicht näher ermittelt) in Hellenisch u. Italo-celtisch, bis endlich das Letztere sich wieder in Celtisch u. in Italisch spaltete. Durch immer weitere Spaltungen dieser Äste u. Zweige entstanden dann in denselben die einzelnen Gruppen u. in diesen wiederum die einzelnen Sprachen u. noch weiter die einzelnen Dialekte der letzteren. Alle I-n S., deren allein in Europa gegenwärtig 34, in Asien etwa 28 als Hauptsprachen gesprochen werden, tragen trotz der großen Verschiedenheiten, welche sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, doch deutlich den Typus der Familie. Die I-n S. charakterisirt, abgesehen von der Fülle ihres geistigen Lebens, dem Glanz u. der Ausdehnung ihrer Productivität, vor Allem ihre Flexibilität, od. die Beschaffenheit, vermöge welcher die grammatische Form in organischem Zusammenhange mit der Wurzel steht, wodurch diese Sprachen zu allen Leistungen befähigt u. ihnen das Erfassen u. Darstellen der Begriffe erleichtert u. vergeistigt wird. Ferner zeichnen sie sich aus durch die Gesetzmäßigkeit, welche in der Anordnung der Laute herrscht, in ihrer gegenseitigen Beziehung u. Abgrenzung, in ihrer auf einer wahrhaft tiefen Durchdringung der natürlichen Elemente beruhenden harmonischen Verbindung u. Trennung. Die I-n S. besitzen ferner die Fähigkeit, sich des Gedankens unmittelbar zu bemächtigen u. für jede beliebige Gestaltung desselben, sei es in dem einzelnen Worte od. im Zusammenhange des Satzes, die passende Form bereit zu halten. Natürlich kommen diese allgemeinen Merkmale nicht bei allen Familien in gleicher Stärke u. in derselben Weise zum Vorschein. An der I-n S. entwickelte sich zunächst die Wissenschaft der vergleichenden Sprachforschung, als deren Begründer Bopp, bes. durch seine Vergleichende Grammatik (Berl. 1832–52, 6 Thle., 2. Bearb. ebd. 1857 ff.), zu betrachten ist. Neben u. nach demselben haben sich bes. Pott, Benfey, Schleicher, G. Curtius, Kuhn, Ebel u. And. dem Studium der I-n S. zugewandt. Kuhn u. Aufrecht gaben eine Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen u. Lateinischen (Berl. 1851 f.), u. Beiträge zur vergleichenden Grammatik des Indischen, Teltischen u. Slawischen (ebd 1856 f.) heraus. Vgl. Schleicher, Die Sprachen Europas, Bonn 1852.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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