Lithauen

Lithauen

Lithauen, ehemaliges Großfürstenthum, umfaßte bei einem Flächengehalt von mehr als 4800 QM. den größeren, nördlichen Theil des heutigen Westrußland, wurde im Süden von Polen, im Westen von Preußen, im Norden von Kurland u. im Osten von Großrußland begrenzt u. ist gegenwärtig zum größten Theile in die russischen Gouvernements Wilna, Kowno, Witebsk, Mohilew u. Minsk, theilweise auch in die Gouvernements Grodno u. Augustowo getheilt. Das Land ist meist flach, zum Theil naß u. sumpfig; ist bewässert vom Dniepr, Dniestr, Düna, Memel, Bug u. vielen anderen Flüssen; ist reich an Holz, theilweise auch fruchtbar, erzeugt namentlich Getreide u. Flachs u. ernährt außer vielem Wild, auch große Viehheerden u. viele Pferde. Die Einwohner haben eine eigne Sprache (s. Lithauische Sprache) u. sind zumeist unirte Griechen od. Lutheraner. Die ehemalige Hauptstadt des Großfürstenthums war Wilna.

In den frühesten Zeiten war Lithauen den Nachbarvölkern, bes. dem Staate von Polozk, unterthan; als selbständiger Staat erscheint L. zuerst 1217, in welcher Zeit Ercziwil sich von der Herrschaft der Polozker losriß, Podlesien, Grodno u. Brzest eroberte u. sich unabhängig machte. Sein Sohn Mingalo überwältigte 1220 Polozk, Piaski u. Turno, u. 1221 begann Eberwand die Vertreibung der Tataren aus L. Ringold, welcher 1238 st., war erster unabhängiger Großfürst von L. Sein Sohn Mindove verfolgte seine Oheime der Oberherrschaft wegen u. trat dem Fürsten Daniel von Halicz Nowgorod u. den Deutschen Ordensrittern Podlesien, Samogitien u. Kurland ab. 1245 ließ er sich vom Erzbischof von Riga taufen u. zum Könige krönen, fiel aber schon 1261 wieder vom Christenthume ab. 1263 wurde er von dem Statthalter von Samogitien erschlagen; Gleiches geschah 1268 seinme Sohn Wolstenk (Basilius), u. nun fiel das Großfürstenthum an den 96jährigen Fürsten Svindorog (Swintorog) von Samogitien; diesem folgte 1270 sein Sohn Giermund u. regierte bis 1275, u. diesem nach einander die Brüder Giligin (bis 1278) u. Trop (bis 1280); des Letztern Nachfolger Narimund eroberte 1281 Podlesien wieder. Sein jüngster Bruder Droiden (Troiden) sollte nach seinem Tode die Obervormundschaft über die andern Brüder führen, wurde aber von einem derselben nach einjähriger Regierung, 1282, ermordet u. nun wurde Witen, sein Edelknabe, Großfürst, welcher bis 1315 regierte, u. dessen Nachkommen L. u. das später damit verbundene Polen bis in die Mitte des 16. Jahrh. beherrschten. Gedimin, des Vorigen Sohn (bis 1328), eroberte Samogitien u. einen Theil Rußlands sammt Kiew. Er gründete die Städte Wilna u. Troki u. wurde bei Friedburg im Kriege gegen den Deutschen Orden erschossen. Er theilte sein Land unter seine Söhne, doch Olgerd herrschte seit 1330, wo er den einen Bruder tödtete,[428] allein; verjagte die Tataren aus Podolien u. überwand den Großfürsten Demetrius von Moskau 1333 bei Mosaisk. Er bekannte sich, durch seine Gemahlin bekehrt, zum Christenthum u. baute eine griechische Kirche in Witebsk, gestattete den Lateinischen Christen freien Gottesdienst u. kriegte mit Masovien, den Kreuzrittern u. dem Großfürsten Fedor. 1340 theilte er Rothrußland mit seinem Schwiegersohn Kasimir den Großen, besiegte 1343 die Deutschen Ordensritter u. ließ seinen Bruder Kynstut Königsberg berennen, welcher jedoch 1349 eine Niederlage erlitt. Dies benutzend, nahm Kasimir d. Gr. einen Theil von Weißrußland u. Podolien. Olgerd machte darauf mit dem Landmeister von Livland, 1367; den sogenannten Räuberfrieden (s. Livland, Gesch.). Er st. 1381 u. hinterließ von seiner ersten Gemahlin, Juliane von Witebsk, sechs Söhne, Wlodzimierz, Zedziwil, Simon, Andreas (von ihm stammen die Fürsten Trubezkoy), Constantin (von ihm stammen die Czartoryski) u. Fedor (von ihm stammen die Sangusko), deren jedem er ein Fürstenthum zutheilte; mit seiner zweiten Gemahlin hatte er gleichfalls sechs Söhne, Jagello, Skirgailo, Swidrygailo, Korybut (von ihm stammen die Fürsten Zwaraski u. Wisniowiezki), Demetrius u. Wigund; alle diese erhielten eigene Besitzthümer, eben so behielt Kynstut, Bruder Olgerds, das seinige, Jagello aber wurde zum Großfürsten über alle diese Fürsten gesetzt. Bald hegte er Argwohn gegen seinen Oheim Kynstut u. ließ ihn 1332 ermorden; darauf ließ er sich den 14. Febr. 1386 in Krakau taufen u. nahm den Namen Wladislaw an. Dies geschah bei seiner Vermählung mit Hedwig von Polen, mit der er Polen erhielt, u. ganz L. wurde durch den Übertritt des Großfürsten zur Annahme des Christenthums bewogen. Durch die Verbindung mit L. wurde Polen eine Hauptmacht Osteuropas. Darüber daß Waldislaw seinen Bruder Skirgailo od. Kasimir zum Großfürsten in L. bestimmt hatte, wurde ein anderer Verwandter Witold od. Alexander eifersüchtig u. verband sich mit dem Deutschen Orden. Doch gewann ihn Wladislaw wieder, indem er ihm die Großfürstenwürde zusagte, u. nun verband sich Skirgailo mit dem Deutschen Orden. Mit diesem kam es nun zum Kriege, u. L. verlor Samogitien 1404 an den Orden. 1409 u. 10 fochten Witold u. Wladislaw wieder gegen den Orden u. gewannen den Krieg durch die Schlacht bei Tannenberg 15. Juli 1410 (s. Polen). 1413 eroberte er Smolensk, auch wurde in demselben Jahre, wie schon 1401, festgesetzt, daß die Fürsten von Polen u. die Großfürsten von L. nur mit Beistimmung. beider Völker gewählt werden sollten, wodurch die Vereinigung beider Staaten gesichert wurde. Lange waren Witold u. der König gute Freunde, aber endlich trat Mißtrauen ein, auch strebte Witold die Königswürde zu erhalten, was ihm Wladislaw zwar zugestand, was aber der Widerspruch einiger polnischen Großen vereitelte. Mitten in den Unterhandlungen hierüber st. 1430 Witold. L. war unter Witold ein angesehener Staat u. begriff außer dem eigentlichen L. den größten Theil von Weiß- u. Rothrußland, Samogitien u.a. Districte in sich. Nun ernannte Wladislaw seinen Bruder Swidrygailo (Boleslaw) zum Großfürsten von L.; da dieser aber mit dem König Krieg anfing, wurde er abgesetzt u. Sigismund Starodubsky, Bruder Witolds, zum Großfürsten ernannt. Nach Wladislaws Tode, 1434, drohte Swidrygailo dem jungen König Wladislaw III. mit Krieg, aber Großfürst Sigismund schlug ihn u. das Ordensheer in Livland, u. darauf kam 1435 der Friede zu Brzesk zu Stande, durchwelchen der Ordendie Neumarkgegendas Versprechen, sich nicht mehr in die lithauischen Händel zu mischen u. den halben Thorner Zoll abzutreten, erhielt. 1439 wurde Sigismund von Iwan Fürst Czartoryski ermordet, u. sein Bruder Kasimir zum Regenten von L. ernannt. Dieser wurde auch 1446 König von Polen, doch begannen nun Streitigkeiten zwischen Polen u. L., da sich beide Länder wegen der ihnen zugehörigen Provinzen nicht vereinigen konnten (s.u. Polen, Gesch.). Nach dem Tode Kasimirs, 1492, erwählten die Polen dessen zweiten Sohn, Johann I. Albrecht, zu ihrem König, die Lithauer dagegen ernannten des Königs dritten Sohn, Alexander, zu ihrem Großfürsten, welcher 1501 König von Polen wurde. Von dieser Zeit an blieben Polen u. L. unter Einem Oberhaupt vereinigt. Als die Schwertbrüder Livland nicht mehr behaupten konnten, traten sie es an den König von Polen, als Großfürsten von L., ab, u. als der letzte Heermeister von Livland, Gotthard Kettler, die Ordensregierung niederlegte, wurde er als Herzog von Kurland nicht polnischer, sondern lithauischer Vasall (1561). Die völlige Vereinigung mit Polen in allen Staatsangelegenheiten kam endlich auf dem Reichstag in Lublin, 1569, so wie der Beschluß, daß stets der dritte Reichstag in Grodno gehalten werden solle, durch mehrere Reichsgesetze, 1673, 77 u. 85, zu Stande. Seitdem theilte L. gleiches Schicksal u. Ende mit Polen, u. bei der Theilung Polens kam der größere Theil an Rußland, der kleinere zu Preußen, wo L. jetzt zu dem ostpreußischen Regierungsbezirk Gumbinnen gehört. Man unterscheidet A) eigentliche Lithauer (zusammen 716,900 Seelen), a) in dem östlichen Theile des russischen Gouvernements Kowno, wo die Kreise Nowo-Alexandrowsk, Brazlaw u. Wilkomir vollständig, die Kreise Ponewesch u. Kowno aber nur in ihren östlichen Theilen von ihnen bewohnt sind (260,110 Seelen); b) im russischen Gouvernement Wilna in den Kreisen Swenzjany, Troki, Lida u. Wilna (zusammen 138,320 Seelen); c) in Kurland nur 7430, wovon die meisten im Hauptmanns-Gerichtsbezirke Illuxt u. Grobin; d) im Gouvernement Grodno nur etwa 2340 in den Kreisen Grodno u. Slonim. B) Die Samogitier od. Schamaiter (poln. Zmudzin, russ. Shmud od. Samogit. janin), wohnen im alten Samogitien (s.d.), welches 1795 an Rußland kam (seitdem bis 18. Dec. 1842 zum Gouvernement Wilna gehörte, jetzt im Gouvernement Kowno) u., abgesehen von einem zur Linken des Niemen befindlichen, gegenwärtig zum Königreich Polen gehörigen Landstücke, die ganze Landschaft zwischen Kurland u. Preußen, landeinwärts bis zu einer etwas welligen Linie, umfaßt, welche aus der Gegend von Banske in Kurland zum Niemenfluß unterhalb Kowno gezogen wird. Die Kreise Telsch, Schawli u. Rossieny sind vollständig, die Kreise Ponewesch u. Kowno in ihren westlichen Theilen von Samogitiern (zusammen 308,680 Seelen) bewohnt. Zu letzterem Zweige der Lithauer gehören auch die lithauischen Bewohner (zusammen 183,916) der Kreise Mariampol, Kalwaria u. Sciny im Gouvernement Augustowo des Königreichs Polen, so daß die Gesammtzahl aller Samogitier 439,000 beträgt. C)[429] Die preußischen Lithaeur beginnen 9 Meilen von Königsberg hinter Taplaken, wo im Dorfe Norkiten bereits lithauisch gepredigt wird. Im Kreise Memel sind fast alle Landbewohner (34,000) Lithauer, die Städter (12,000) Deutsche; im Kreise Labiau ist der östliche Theil zwei Drittheile (26,800) lithauisch. Im Regierungsbezirk Gumbinnen haben die acht nördlichen Kreise auf dem platten Lande lithauische Bevölkerung (die Kreise Heidekrug, Niederung, Tilsit, Ragnit, Pillkallen, Stallupöhnen, Gumbinnen, Insterburg) großentheils, die Kreise Darkehmen u. Goldapp nur in ihrer nördlichen Hälfte; 1846 wurde die Gesammtzahl der preußischen Lithauer auf 252,700, die Gesammtstärke aller drei lithauischen Zweige aber auf 1,154,000 angegeben. Vgl. A. L. Schlözer u. 9. A. Gebhardi, Geschichte von L., Halle 1785; Plater, Geschichte Lithauens; Krause, Lithauen u. dessen Bewohner, ebd. 1834; v. Köppen, Der Lithauische Volksstamm, Ausbreitung u. Stärke desselben, in der Mitte des 19. Jahrh. in den Mélanges Russes (Petersb. 1851, 2. Bd.); Blewel, Rückblick auf das Alter der lithauischen Stammvölker, Wilna 1808.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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