- Staatensystem
Staatensystem, 1) eine Mehrheit von Staaten, zwischen denen in Bezug auf den völkerrechtlichen Verkehr unter einander Gemeinschaftlichkeit der völkerrechtlichen Grundsätze anerkannt ist. In diesem Sinne spricht man von einem Europäischen S. als dem Inbegriff der sämmtlichen europäischen Staaten, zwischen welchen seit dem 16. Jahrh. gleiche Grundsätze des Völkerrechts in Übung gekommen sind, so daß die von einem Staate verübte Verletzung des Völkerrechts nach einer Art Gesammtbürgschaft auch von den andern Staaten als solche angesehen u. behandelt wird. Im engern Sinne 2) die Staatenmehrheiten, welche noch durch besondere engere Verbindungen mit einander verknüpft sind, so daß sie in gewissem Sinne selbst wieder eine Einheit od. wenigstens eine Einigung nach Außen bilden, die conföderirten od. unirten Staaten. Dergleichen Einigungen können zunächst nur zu vorübergehenden Zwecken geschlossen sein; in diesem Falle spricht man von sogenannten Allianzen (s.d.), deren Bedeutung nur in einem contractsähnlichen Verhältniß beruht; werden dieselben aber zu bleibenderen u. umfassenderen Zwecken, unter [623] Bildung eigener, die Verbindung sichernder Organe geschlossen, so bilden sich aus ihnen, je nachdem diese Organisation selbst mehr od. minder einen staatenähnlichen Charakter annimmt, die besonderen Begriffe des Staatenbundes, des Bundesstaates u. der Union im engeren Sinne, welche sich wieder in die Personal- u. Realunion spaltet. A) Ein Staatenbund (Systema civitatum confoederatarum) ist da vorhanden, wenn mehre an sich unabhängige Staaten sich durch Vertrag od. völkerrechtliches Bündniß in der Weise zu einem dauernden Bunde vereinen, daß die einzelnen Staaten an sich souverän bleiben u. nur zur gemeinsamen Erreichung eines beschränkten Zweckes in bestimmten Beziehungen ihre Souveränetät einem die Gesammtheit, d.i. sämmtliche Glieder der Conföderation, repräsentirenden Organe (Bundesversammlung) unterordnen. Dagegen gibt es B) im Bundesstaate (Civitas foederata s. composita, auch Staatenstaat genannt) nicht nur vollständig organisirte Einzelstaaten, sondern das Gesammtorgan erhebt sich zu einer vollständigen Staatsgewalt, welche sämmtliche Staatszwecke wie im Einzelstaate verfolgt, u. damit die Verbindung selbst zu einem selbständig organisirten Centralstaat. Als Beispiel eines Staatenbundes können die Schweizerische Eidgenossenschaft bis 1848 u. der Deutsche Bund von 1815 an, als Beispiel eines Bundesstaates dagegen die Vereinigten Staaten von Nordamerika seit 1787, die Schweiz seit der Verfassung von 1848 u. die Deutsche Reichsverfassung vom Jahre 1849 gelten. Beide Formen von Staatenvereinigungen kommen daher darin überein, daß jeder der Einzelstaaten seine besondere Regierung behält, welche in Betreff aller nicht dem Gesammtorgan überwiesenen Gegenstände selbständig u. unabhängig bleibt; allein während im Staatenbunde das Centralorgan nur durch eine Zusammensetzung der Einzelwillen gebildet wird, setzt der Bundesstaat zu seinem Begriffe für dies Centralorgan eine in ihrer Sphäre selbständige Gewalt voraus, welche daher auch nach eigenem freien Willen herrscht u. dazu mit der nöthigen zwingenden Gewalt ausgerüstet ist. In der Regel behält deshalb auch im Staatenbunde jeder Einzelstaat das volle active u. passive Gesandtschaftsrecht u. volles Bündniß- u. Vertragsrecht mit anderen nicht zum Bunde gehörigen Staaten; dagegen hat im Bundesstaate meist nur der Gesammtstaat das Recht u. die Ehre des diplomatischen Verkehrs, so daß diese den Einzelstaaten entweder ganz entzogen sind od. letztere doch nicht ohne Vorwissen u. Genehmigung der Centralgewalt zu völkerrechtlichen Verträgen schreiten können. Charakteristisch ist ferner für das Bestehen eines Bundesstaates, daß, weil dem Centralorgan die vollen Attribute einer wirklichen Staatsgewalt beizumessen sind, der Gesammtstaat seine eigene gesetzgebende u. vollziehende Gewalt, eine eigene Finanzhoheit u. ein Besteuerungsrecht über die Unterthanen aller Einzelstaaten hat Demgemäß besteht deshalb auch im Bundesstaate eigentlich eine doppelte Unterthanenschaft, ein Einzelstaats- u. ein Reichsbürgerrecht, während im Staatenbunde die Unterthanenschaft immer nur eine einfache, innerhalb des Einzelstaates bleibt, weil die Verbindung des Gesammtkörpers nur unter den Staatsgewalten dieser Einzelstaaten, nicht auch mit unmittelbarer Wirkung auf die Gesammtheit der in den. Einzelstaaten lebenden Individuen stattfindet. Im Übrigen läßt sich darüber, wie groß dec Umfang der materiellen Befugnisse der Bundesgewalt u. der mit dem Reichsbürgerrecht verbundenen Berechtigungen im Bundesstaat sein müsse, von vornherein eine unwandelbare Bestimmung nicht aufstellen, vielmehr hängt in dieser Beziehung Alles von der historischen Ausbildung des Bundes selbst u. den Grundlagen des speciellen Bundesvertrags ab. C) Union im engern Sinne endlich begreift die Verbindung zweier od. mehrer Staaten unter einem gemeinsamen Herrscher. Diese ist entweder eine Personal- od. Realunion. a) Die Personalunion findet dann statt, wenn zwei an sich selbständige Staaten nur dadurch unter einem Scepter vereinigt werden, daß in Folge einer zufälligen Übereinstimmung der Successionsgesetze dieselbe Person zu beiden Kronen berufen wird. Hier bleiben beide Staaten fortwährend in Verfassung, Recht u. Verwaltung vollständig von einander unabhängig u. treten nur durch die Vereinigung unter demselben Staatsoberhaupt in eine äußerliche Beziehung zu einander. Dieser Art war die Verbindung des Deutschen Reiches mit Spanien unter Karl V., von Hannover u. England unter Georg IV., Polen u. Sachsen unter den Augusten u. von Schleswig-Holstein u. Dänemark nach dem Vertrag von 1620. Inniger wird schon das Verhältniß, wenn die Kronen zweier Staaten derselben Dynastie nach demselben Successionsgesetze zugehören u. hierdurch die Personalunion zu einer dauernden wird, wie sie z.B. nach der Pragmatischen Sanction für die unter dem österreichischen Scepter vereinigten Staaten, zwischen Preußen u. Neuenburg 1707 hergestellt wurde. Allein auch hier wird dadurch kein neuer Gesammtstaat gebildet, sondern es bleiben die Staaten rechtlich getrennt, u. nur wenn das Staatsoberhaupt in absoluter Weise regiert, kann die Einheit der Spitze von größerer praktischer Bedeutung werden. b) Bei der Realunion ist aber nicht blos die Person des Staatsoberhauptes, sondern auch die oberste Staatsleitung in Gesetzgebung u. Regierung grundgesetzlich zwischen den unirten Staaten geeinigt. Demnach bilden z.B. Schweden u. Norwegen realunirte Königreiche, ebenso ist Schleswig mit Holstein, Polen mit Rußland in einer Realunion verbunden. Immerhin wird indessen zum Begriffe der Realunion noch eine gewisse Selbständigkeit der zwei od. mehreren Staatskörper vorausgesetzt. Sie hört daher auf u. die Verbindung wird c) zum Einheitsstaat, wenn entweder die eine bisher selbständige Staatsgewalt der andern ganz untergeordnet (Unio persuppressionem, Incorporation, Mediatisirung) od. aus beiden eine einzige Staatsgewalt (Unio per novationem) gebildet wird.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.