Amnestie

Amnestie

Amnestie (v. gr.), 1) eigentlich das Nichteingedenksein, bes. 2) Nichteingedenksein u. deshalb Nichtahndung eines begangenen Unrechts od. Verbrechens; bes. 3) (lat. Abolitlo facti, Oblivio), Zusicherung, ein geschehenes Vergehen als nicht geschehen zu betrachten, also Zusicherung der Befreiung von Strafe, welche eine Autorität ihren Untergebenen, welche der Strafe anheimgefallen sind (z.B. Deserteurs, Rebellen), unter gewissen Bedingungen ertheilt. Am häufigsten kommt sie bei Theilnahme an einem, eine Zeitlang gelungenen Aufruhr vor (politische A.), wo sie ganzen Orten od. Massen von Individuen, die sich dabei betheiligt haben, zugesichert wird; in neuerer Zeit auch bei Jagd- u. Preßvergehen. Sie ist eine allgemeine (unbedingte), wenn jedem Theilnehmer Verzeihung gewährt wird, od. besondere (bedingte, A. mit Ausnahme), wenn sie sich nicht auf alle erstreckt, sondern gewisse Fälle, bes. Hochverrath in höherem Grade, od. gewisse Klassen, z.B. die Offiziere bei Militäramnestien, ausnimmt. Gemeine Verbrechen, wie Diebstahl, Mord u. dgl., sind nie in der A. inbegriffen, werden aber gewöhnlich noch namentlich in den A-patenten ausgeschlossen. Nur in Italien, Spanien, Portugal etc. wird zuweilen A. auch gegen ganze Räuberbanden ausgesprochen. Bei Amnestirung der Staatsdiener unterscheidet man eine zweifache Wirkung: durch A. im weiteren Sinn werden eingeleitete Processe niedergeschlagen, können Geflüchtete in ihr Vaterland zurückkehren etc.; durch die A. im engeren Sinne treten die Amnestirten auch wieder in die inzwischen verlorenen Ämter ein; Letzteres ist ein besonderer Gnadenact der vollziehenden Staatsgewalt. A-n pflegen ertheilt zu werden bei Regierungsantritten (so in Preußen am 10. Aug. 1840, im Kirchenstaate 1846, in Baiern am 2. April 1848), Staatsfesten (z.B. Constitutionsfest), Familienfesten in den Fürstenhäusern, Namenstagen (z.B. in Spanien am 19. Nov. 1849 am Namenstage der Königin), Vermählungen (so in Österreich für die beim Maicomplott 1849 Betheiligten, der Majestätsbeleidigung u. des Hochverraths Beschuldigten u. Überführten zum großen Theil bei Gelegenheit der Vermählung des Kaisers Ende April 1854) etc. Die A. ist griechischen Ursprungs, u. das erste Beispiel davon kommt in Athen nach dem Sturze der 30 Tyrannen (s. Athen, Gesch.) 403 v. Chr. vor, wo auf Rath des Thrasybulos ein Gesetz erging, daß Niemand wegen vergangener politischer Verschuldungen angeklagt od. gestraft werden sollte. Diese Straflosigkeit wurde nochmals öfter in Athen erbeten u. gewährt, aber gewöhnlich nicht A., sondern Adie (Adeia, d. h. Unbesorgtheit, Furchtlosigkeit für seine Person, Sicherheit), genannt. Auf jene erste A. in Athen pflegte man sich nachmals in Rom zu beziehen, wenn ein ähnliches Vergessen vorheriger politischer Vergehen u. Feindschaften (Oblivio, Abolitlo) beantragt od. decretirt wurde. Die eigentliche A. kommt bei den Römern zuerst unter Cäsar vor, der nach der Schlacht bei Munda im J. 45 v. Chr. Allen, die gegen ihn die Waffen getragen hatten, Verzeihung zu Theil werden ließ. Dann ertheilte A-n der Senat, auf Ciceros Fürsprache, den gegen Cäsar Verschworenen; der Kaiser Claudius denen, die nach. Caligulas Tod gegen seine Nachfolge gestimmt hatten; Aurelian den politischen Verbrechern unter seiner Regierung. Die Beschränkungen u. Ausnahmen, wie jetzt, fehlten auch nicht; so wurden bei der athenischen A. die 30 Tyrannen u. ihre 10 Nachfolger ausgenommen, welche exilirt wurden; Claudius nahm die Tribunen u. einige Centurionen aus, welche die Häupter der Verschwörung gegen Caligula gewesen waren u. auch seinen eigenen Tod gefordert hatten; unter Aurelian erstreckte sich die A. auch nicht auf gemeine Verbrecher, wie Beamte, welche öffentliche Kassen bestohlen od. sich Gelderpressungen hatten zu Schulden kommen lassen. Die A. ist sodann auch in die neueren Staaten übergegangen. Ein Beispiel nicht gehaltener A. ist der zurückgenommene französische Religionsfriede von 1570, in dem ausdrücklich vollständige A. verheißen war, durch die Pariser Bluthochzeit 1572. Andere berühmte A-n waren der Passauer Religionsvertrag 1552, die im Westfälischen Frieden 1648 zugesicherte A. von den Ereignissen in Böhmen, die General-A. nach Karls II. von England Thronbesteigung 1660, wovon nur die Richter Karls I. ausgeschlossen waren. Bes. zahlreich waren die A-n in Frankreich: die Charte constitutionelle von 1814, hinsichtlich aller Vergehen in der franz. Revolution, die A. Napoleons 1815 von Lyon aus, von der nur 13 Personen (Talleyrand, Bourrienne, Dalberg etc.) ausgenommen wurden, die der Bourbons vom 12. Jan. 1816, wovon nur 19, denen nach früherer Verordnung der Proceß gemacht werden sollte (Ney, Labédoyère, Lavalette, Bertrand, Savary etc.), 36 andere, welche der König binnen 2 Monaten verbannen konnte (Soult, Bassano, Vandamme, Carnot, Hulin, Merlin etc.), die Régicides, welche an unbedingter Verurtheilung Ludwigs XVI. Theil gehabt, u. die, welche während der 100 Tage ein Amt übernommen hatten, ausgeschlossen waren, aber auch diesen wurde nach u. nach die Rückkehr gestattet, u. nach der Revolution 1830 blieb nur die Familie Bonaparte verbannt. Für Ferdinand VII. von Spanien erließ erst die Königin 1832 eine[425] A. mit wenigen Ausnahmen; außerdem wurden in Spanien u. Portugal mehrmals, auch noch 1839 beschränkte od. sehr ausgedehnte A-n (wie bei dem Übertritt Marotos die letzte der Königin Christine) erlassen, nur Don Miguel verweigerte, so lange er am Ruder war, jede A. Nach den polnischen Unruhen 1830 u. 1831 erfolgte eine, obschon höchst beschränkte A., der größere Theil der bedeutenderen politischen Verbrechen Schuldiger blieb verbannt, bis beim Regierungsantritt des Kaisers Alexander II. die Rückkehr 1855 gestattet wurde. Besonders zahlreich sind A-n in Deutschland ertheilt worden seit 1840 u. 1848. Die hochherzigste A. in neuester Zeit ist die General-A. für alle im Kaiserthum Österreich 1848 u. 1849 begangenen politischen Verbrechen im Jan. 1857.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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  • Amnestie — Begnadigung; Straferlass * * * Am|nes|tie [amnɛs ti:], die; , Amnestien [amnɛs ti:ən]: Erlass oder Milderung der Strafe (besonders für politische Vergehen): eine Amnestie fordern, erlassen, gewähren; unter die Amnestie fallen. * * * Am|nes|tie 〈f …   Universal-Lexikon

  • Amnestie — Am·nes·tie die; , n [ iːən]; eine (von der Legislative beschlossene) Aufhebung oder Milderung der Strafe für eine Gruppe von meist politischen Häftlingen <eine Amnestie erlassen, unter die Amnestie fallen> || NB: im Unterschied zur Amnestie …   Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache

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