- Fahrende Leute
Fahrende Leute, nannte man im Mittelalter die einzeln od. in Banden von Ort zu Ort wandernden Gaukler, Taschenspieler, Quacksalber, Vorzeiger von Merkwürdigkeiten, Tänzer, Sänger u. Erzähler von Neuigkeiten, Schauspieler, Spielleute u. andere Lustigmacher, welche namentlich bei öffentlichen Festen an Höfen od. bei kirchlichen Feierlichkeiten, Jahrmärkten etc. für Geld ihre Künste zeigten u. Geheimmittel verkauften. Der Ursprung dieser F-n L. ist römisch; erst nach der Völkerwanderung begannen sich römische Fechter, Tänzerinnen, welche üppige Tänze aufführten, Gaukler, welche mit gefährlichen u. wunderbaren Experimenten das Volk ergötzten etc. in die germanische Welt einzudringen, wo sich ein verwandtes, aber ungleich achtungswürdigeres Element in den Fahrenden Sängern vorfand, die ebenfalls das Land durchstreiften u. Lieder u. Erzählungen namentlich an den Fürstenhöfen vortrugen. Beide Elemente flossen später in einander, so daß auch die fahrenden Sänger in dieselbe Mißachtung geriethen, welche den F-n L-n zu Theil wurde. Trotz dieser Mißachtung u. den von Staat u. Kirche ausgehenden Verordnungen (schon 534 kommt eine solche vor) gegen das Treiben der F-n L., die als völlig rechtlos betrachtet wurden, auch in der Tracht, namentlich des Haares u. Bartes nicht die Sitte des freien Mannes nachahmen durften u. von den Sacramenten der Kirche ausgeschlossen waren, waren gesehen. Bei der Aufführung der kirchlichen Schauspiele wurden sie nach u. nach fast unentbehrlich, seitdem das burleske Element dabei neben dem religiösen zur Geltung kam. Einen ungeheueren Zuwachs erhielt diese Volksklasse, als in Folge der Kreuzzüge die Wanderlust u. Sucht nach Abenteuern um sich griff. Namentlich rekrutirten sich aus dem geistlichen Stande die umherziehenden Banden mit fahrenden Priestern, Bettelmönchen, Flagellanten, entlaufenen Nonnen, Beguinen (Fahrende Fräulein), Fahrenden Schülern, welche die Lehranstalten verlassen hatten, um ein ungebundenes Leben zu führen. als Kesselflicker u. Gauner bekannten Zigeuner, endlich auch entlassene Söldner u. Landsknechte an. Im 14. u. 15. Jahrh. wurde das Verhältniß der F-n L. zur geistlichen u. weltlichen Obrigkeit ein freundlicheres. Man gewöhnte sich daran, auch das fahrende Volk zu den Menschen zu zählen u. dasselbe des Rechtsschutzes theilhaftig werden zu lassen. Die größere Strenge in polizeilichen Maßregeln gegen den Unfug der F-n L. steuerte nach u. nach der überhandnehmenden Zügellosigkeit derselben, bis endlich seit der Reformation die große Masse der herumziehenden Banden bedeutend verringert wurde. Doch erlosch das Geschlecht der F-n L. nicht ganz u. erhielt Zuzug namentlich vor u. während des Dreißigjährigen Krieges abermals von Italien aus, welches seine Goldmacher, Wunderdoctoren, Schatzgräber, Geisterbanner, seine Kameel-, Affen- u. Bärenführer, seine Komödianten mit den stereotypen Figuren der italienischen Volksbühne über die Alpen sandte. Nur spärliche Reste des fahrenden Volkes erhielten sich bis ins 19. Jahrh., wo sie nur noch auf Jahrmärkten u. Messen als Orgeldreher mit sogen. Mordschildern, als Seiltänzer, Kunstreiter, Jongleurs an Orten auftreten, die der große Verkehr nicht berührt. In großen Städten erscheinen die letzten Nachkommen des fahrenden Geschlechts in neuester Zeit in einer sich mehr der bürgerlichen Ordnung anschließenden Form als Kunstreitergesellschaften, Menagerie- u. Panoramaführer, als wandernde Schauspielertruppen vorzugsweise auf Sommertheatern. Scherzweise werden sie insgesammt mit dem Namen Meerschweinchen belegt, um an die armseligste Gestalt des fahrenden Volkes, die Savoyarden, zu erinnern.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.