Indicien

Indicien

Indicien (Inzichten, Anzeigungen, v. lat. Indicium) im Strafproceß Thatsachen u. Umstände, welche, verschieden von dem eigentlichen Beweisgegenstande, mit demselben doch in einer solchen Verbindung stehen, daß von dem Vorbandensein derselben nach logischen Gesetzen auf das Vorhandensein der zu beweisenden Thatsache selbst geschlossen werden kann. Der Indicienbeweis (Beweis durch Anzeigungen) steht daher dem Falle gegenüber, wo der Beweis entweder durch unmittelbar sinnliche Wahrnehmung des Richters od. von demselben beauftragter Personen, od. durch Zeugen od. durch Geständniß geführt worden ist; der Richter baut dabei sein Erkenntniß über die fragliche Thatsache nur auf die Gewißheit anderer Thatsachen, welche durch Schlußfolgerungen auf die andere Thatsache hinführen. In diesem Sinne gibt es sowohl I. für den Anschuldigungsbeweis (I. im engeren Sinn), als für die Unschuld des Verbrechers (Gegenindicien, Gegenanzeigen), Bei der Beweiskraft der I. ist bes. darauf zu sehen, daß die Thatsache, welche den Untersatz des Schlusses bildet, gehörig erwiesen sei; daß das Gesetz, welches der Richter zur Folgerung des Schlusses anwendet, durch sichere Erfahrungen als ein zuverlässiges feststehe u. daher mit logischer Nothwendigkeit zu der zu beweisenden Thatsache hinführe; daß dabei auch die Gegengründe, welche sich gegen die Annahme der Folgerung erheben lassen, gehörig geprüft werden; hauptsächlich auch, daß der Angeschuldigte eine solche Persönlichkeit sei, welcher nach ihrer Individualität u. ihrem bisherigen Lebenswandel das fragliche Verbrechen zugetraut werden kann. Wo unter Einhaltung dieser Regeln sich gegen einen Angeschuldigten eine Mehrzahl von Anzeigungen ergibt u. wo dieselben in einer solchen Weise mit einander verkettet sind, daß sie in gleicher Weise auf den Angeschuldigten hinweisen, da kann auch auf I. hin ein Beweis mit voller Gewißheit begründet werden. Zur Gewinnung sicherer Regeln über die Anwendung der I. sind dieselben eingetheilt: a) in nahe (nach der Carolina redliche) u. entfernte I., je nachdem zwischen der Thatsache, welche als I. zu dienen hat, u. dem in Frage stehenden Beweissatz ein natürlicher Zusammenhang mit mehr od. minder dringender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Zu den nahen I. gehört hiernach z.B. das Finden einer dem Angeschuldigten gehörigen Sache am Orte der That, das Vorfinden gewisser, dem Verletzten gehörigen Sachen im Besitze des Angeschuldigten, Blutspuren an den Kleidern desselben, Drohungen etc.; zu den entfernten z.B. der üble Ruf, auffallendes Benehmen, Vertilgung der Spuren der That, Flucht, Lügen etc.; b) in vorausgehende Thatsachen, welche als Ursache, Grund u. Bedingung des Verbrechens zu gelten haben; gleichzeitige I., die am Orte od. zur Zeit der That vorgefundenen Spuren von der Anwesenheit u. Wirksamkeit des Angeschuldigten; nachfolgende I. solche Umstände, welche sich als Wirkung u. Folge des Verbrechens darstellen; c) in allgemeine I., welche eine gewisse Person überhaupt als Verbrecher verdächtigen, u. besondere, welche gerade auf das in Frage stehende Verbrechen hinweisen, wie bei einem Giftmord der Besitz von Gift, Zeichen einer heimlichen Schwangerschaft u. Entbindung beim Kindermord etc. Im alten Deutschen Recht war es unzulässig, auf Anzeigen hin zu verurtheilen, während nach Römischem Recht eine solche Verurtheilung als erlaubt galt, da die römischen Richter eine gesetzliche Beweistheorie überhaupt nicht kannten u. an die Abgabe von Entscheidungsgründen nicht gebunden waren. Im 15. u.[855] 16. Jahrh. bildete sich die Ansicht aus, daß zwar auf förmliches Bekenntniß od. sonstigen directen Beweis eine Verurtheilung gebaut werden dürfe, daß aber eine vorhandene Mehrzahl von I. doch ausreiche, um auf dem Wege der Folter die Erlangung des Geständnisses zu versuchen. Auf dieser Ansicht beruht auch der Artikel 22 der Carolina, nach welchem verordnet wurde, daß Niemand auf einigerlei Anzeigung, Argwohns, Wahrzeichen od. Verdacht zur peinlichen Strafe verurtheilt werden solle. Allein später suchte sich der Gerichtsgebrauch von dieser Vorschrift mehr u. mehr loszumachen, wurde dadurch aber auch in ein großes Schwanken gebracht, welches zunächst dazu führte, daß in einer Reihe neuerer Gesetze die Zulässigkeit einer Verurtheilung auf I. hin entweder allein od. in Verbindung mit directen Beweismitteln untergewissen Einschränkungen, förmlich für zulässig erklärt u. die Bedingungen näher festgestellt wurden, unter denen ein Thatumstand als eine genügende Anzeigung zu betrachten sei. Um auch eine formelle Bürgschaft für vorsichtige Anwendung des Indicienbeweises zu erhalten, findet sich dabei in diesen Gesetzen zuweilen die Anordnung, daß zur Verurtheilung auf Anzeigen nicht die gewöhnliche Stimmenmehrheit, sondern entweder Stimmeneinhelligkeit od. Mehrheit von zwei Drittheilen der Stimmen gefordert wurde; auch wurde gewöhnlich die Verurtheilung zur Todesstrafe auf Anzeigen ausgeschlossen. Allein alle diese Gesetze haben neuerdings durch Einführung des Anklageverfahrens mit Öffentlichkeit, Mündlichkeit u. Geschworenengerichten ihre Bedeutung verloren, indem überall, wo diese Einrichtung besteht, die Überzeugung von Schuld od. Unschuld lediglich auf das Gewissen u. auf den moralischen Eindruck gestellt wird, welchen die in der Hauptverhandlung vorgeführten Thatsachen auf die urtheilenden Geschworenen od. rechtsgelehrten Richter machen. Es ist daher den Richtern ganz freigegeben, welchen Werth sie auf die verschiedenen Anzeigungen legen wollen, s.u. Geschworengericht.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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