Stephan [2]

Stephan [2]

Stephan, Martin, geb. 13. Aug. 1777 zu Stramberg in Mähren, wo sein Vater ein Leinweber war, erlernte das väterliche Handwerk u. kam 1798 nach Breslau, wo er, schon von Jugend auf in der pietistischen Richtung erzogen, sich den sogenannten Erweckten anschloß u. sich entschloß noch Theologie zu studiren, um auch den Andern das Heil nach seiner Auffassung predigen zu können. Er besuchte daher seit 1802 das Elisabetheum in Breslau u. bezog, ohne viel gelernt zu haben, 1804 die Universität zu Halle u. nach einer Unterbrechung 1806 die zu Leipzig, wo er, die Studien als fleischliche Wissen schaften verwerfend, sich hauptsächlich mit ascetischen Schriften beschäftigte. Ohne ein Examen gemacht zu haben wurde er, als des böhmisch-mährischen Idioms mächtig, 1809 Pfarrer zu Haber in Böhmen u. 1810 Pfarrer der kleinen Böhmischen Gemeinde u. deutscher Prediger an der St. Johanniskirche in Dresden. Hier sammelte er durch seine Predigten im streng lutherischen Geiste einen Kreis. Gleichgesinnter um sich, mit denen er auch neben dem kirchlichen Gottesdienst Erbauungs- u. später auch Sprechstunden hielt od. durch Andere halten ließ. Diese seine immer zahlreicher werdenden Anhänger nannten sich mit der Zeit eine Gemeinde, deren Mitgliedern S. nicht nur, gegen die Ordnung, das Abendmahl reichte, sondern für welche er auch Amtshandlungen verrichtete, u. setzte dies, trotz einer, in Folge einer 1820 gegen ihn erhobenen Beschwerde Seitens der städtischen Geistlichkeit in Dresden an ihn ergangenen Abmahnung durch die Ephorie, nicht nur fort, sondern erlaubte sich auch verdächtigende u. verdammende Urtheile gegen die anderen Prediger als Verlogene u. Falschgläubige. Er vernachlässigte seine [773] Böhmische Gemeinde gänzlich, während er seiner bis auf 1000 Personen gestiegenen Glaubensgesellschaft seine ganze Wirksamkeit widmete, dafür aber auch deren unbedingte Hingabe an ihn u. völliges Vertrauen als infallibiler Lehrer u. Gewissensrath besaß. Neben den Erbauungsstunden richtete er auch für die Mitglieder aus den niedern Ständen geschlossene Gesellschaften zur Erholung ein, an denen Frauen u. Töchter theilnehmen konnten u. welche stehend u. ambulant gehalten u. des Abends beginnend bis in die Nacht dauerten, was mit S-s lang gepflogener Gewohnheit nächtlicher Spaziergänge an entlegenen Orten in Verbindung stand, aber bald zu Gerüchten von sehr ärgerlichen Vorkommnissen dabei Veranlassung gab. Aber auch außerhalb Dresden fand er seit 1827 Anhänger, bes. im Muldenthale u. im westlichen Theile des Altenburgischen Landes, unter ihnen auch Prediger, welche kleine Gemeinden in dem streng symbolisch-gläubigen Sinne S-s in ihren Gemeinden bildeten, zu denen S. jährlich, ganz in bischöflicher Weise, Visitationsreisen unternahm u. in ihren Kirchen unter großem Zulauf predigte. Das immer zelotischer, herausfordernder u. ordnungswidriger werdende Gebahren S-s u. seiner Anhänger hatte längst nicht nur die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen u. bei Geistlichen u. Laien großen Unwillen erweckt, sondern auch Beleuchtungen dieses für Haus u. Kirche gefahrdrohenden Treibens S-s in Zeitblättern u. Flugschriften hervorgerufen. Dazu kam, daß die Stephanisten durch den Rücktritt des Ministers Grafen von Einsiedel 1830, sowie durch den Tod mehrer, die stephanische Glaubensrichtung begünstigender hochgestellter Personen ihren Schutz von oben allmälig verloren. Nachdem nun 1837 die zweite Kammer des königlich sächsischen Landtags die Stephanische Angelegenheit in den Kreis ihrer Verhandlungen gezogen u. in scharfen Reden sich darüber ausgesprochen hatte, wurde endlich am 8. Nov. 1837 in dem Weinbergshause zu Hoslösnitz eine nächtliche Gesellschaft mit S. selbst unter gravirenden Umständen von der Polizei aufgehoben, S. darauf von seinem Amte suspendirt u. eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, in welcher es sich nicht allein um seinen verdächtigen Lebenswandel, sondern hauptsächlich nm die Beschwerde seiner eigentlichen, der Böhmischen, Gemeinde handelte, namentlich wegen Vernachlässigung seines Amtes an ihr u. wegen unredlicher Gebahrung mit ihren pecuniären Interessen (er hatte während 28 Jahren keine Rechnung über ihre kirchlichen Kassen abgelegt). Jetzt erhob sich das Geschrei der Stephanianer, welche schon allenthalben seit Jahren über Druck u. Verfolgung beklagt hatten, daß die wahre Kirche Christi nur durch eine Gesammtauswanderung der Gläubigen nach Amerika gerettet u. erhalten werden könne, u. nachdem S. selbst im Frühjahr 1838 seine Zustimmung dazu gegeben hatte, wurde ein eigenes Berathungscomite niedergesetzt u. eine Creditkasse errichtet (welche sich zuletzt auf 125,000 Thlr. belief u. unter S-s Disposition stand). Auch in dieser Zeit setzte S., welcher seine Gattin schon lange gänzlich vernachlässigt hatte, seinen unsittlichen Wandel fort u. erhielt, der heimlichen Entweichung verdächtig, 15.–24. Octbr. in Dresden Hausarrest. Nachdem auf seine Immediatsupplik beim König die Untersuchung wider ihn niedergeschlagen (er sollte blos 500 Thlr. Caution zur Sicherstellung der Böhmischen Gemeinde niederlegen) u. der Hausarrest aufgehoben worden war, verließ er in der Nacht vom 27. zum 28. Oct. heimlich u. von den Seinigen nur von einem Sohne begleitet, Dresden, ging nach Bremen, wo er seine Glaubensgenossen (Stephanianer, Stephanisten), bei 700 an der Zahl, unter ihnen 6 Geistliche, 10 Candidaten u. 4 Schullehrer, fand, u. segelte am 18. Nov. nach Nordamerika, nach den inzwischen von seinen Anhängern angekauften Ländereien Wittenberg in Perry County am Mississippi, ab. Kurz vor St. Louis ließ er auf dem Dampfboot von Männern u. Frauen eine Acte der gänzlichen Unterwerfung unter ihn als Bischof im neuen Vaterlande an Eidesstatt unterzeichnen u. nach der Ankunft in St. Louis betrieb er, unter Fortsetzung seines üppigen Lebens, hauptsächlich seine Investitur als Bischof, wozu ein Bischofsornat mit Krummstab, Mütze u. goldener Kette angefertigt wurde. Darauf ging die Reise am 26. April 1839 nach Wittenberg. Aber bereits seit dem 5. Mai wurden von mehren Mädchen Enthüllungen rücksichtlich ihres intimen Umgangs mit S. an die anderen Prediger gemacht, worauf er am 30. Mai wegen Unzucht, Veruntreuung fremden Gutes u. selbst falscher Lehre abgesetzt, excommunicirt u. aus der Colonie verwiesen u. Tags darauf mit einer Ausstattung u. 100 Piastern versehen, begleitet von einem Mädchen, welche von je seine Favorite gewesen war, jenseits des Mississippi nach Illinois geschafft wurde. Dort starb er 21. Febr. 1846 u. soll katholisch geworden sein; das Gerücht von seiner Rückkehr nach Europa ist ungegründet, wohl aber kam sein mit ihm ausgewanderter Sohn Martin nach Dresden, um das Baufach zu studiren, kehrte aber nachher nach Amerika zurück, wo er Geistlicher wurde. S. schr.: Christliche Katechismusübung, Dresd. 1822; Der christliche Glaube (ein Jahrgang Predigten), Dresd. 1825, 2 Thle., u. einige andere Predigten u. gab Scrivers Reich gewordener Christ, ebd. 1833, heraus. Vgl. Pöschel, Glaubensbekenntniß der Gemeinde zu St. Johannis in Dresden, ebd. 1833; O. von Uckermark, Sendschreiben an Professor Krug, Sondersh. 1837; von Ammon, Geistesverirrungen des Baron von Uckermark, Lpz. 1837; Lütkemüller, Die Lehren u. Umtriebe der Stephanisten, Altenb. 1838; G. Pleißner, Die kirchlichen Fanatiker im Muldenthale, ebd. 1839; Die Schicksale u. Abenteuer der aus Sachsen nach Amerika ausgewanderten Stephanianer, Dresd. 1839; Fischer, Die Wahrheit in der Sache der Stephanianer, Lpz. 1839; von Polenz, Die öffentliche Meinung u. der Pastor S., Dresd. 1840; K. Ed. Vehse, Die Stephansche Auswanderung nach Amerika, Dresd. 1840.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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