Gnosis

Gnosis

Gnosis (gr., Kenntniß, Erkenntniß), 1) in den ersten christlichen Jahrhunderten, namentlich nach dem Sprachgebrauche der jüdischen Theologen zu Alexandria, eine tiefere Einsicht in das Wesen u. den inneren Zusammenhang der Religionslehren, welche nicht blos bei den historischen Thatsachen u. dem einfachen Auctoritätsglauben des Volks stehen bleibt, sondern nach Gründen forscht u. überall die Idee nachzuweisen sucht. Zur Zeit des Auftretens u. der weiteren Verbreitung des Christenthums fühlten sich die besseren Geister durch die bisherigen Religionen u. Philosophischen Systeme unbefriedigt, u. es zeigte sich bei ihnen ein Streben, den positiven Glauben zu idealisiren, hinter der Form, dem Historischen u. Mythischen, ein tiefes Geheimniß zu erforschen u. die in den verschiedenen Systemen zerstreuten Keime der Wahrheit zu einem Ganzen zu verbinden. Diese G. findet sich in den orientalischen Religionssystemen, z.B. des Zoroaster, im Judenthum bei Philo u. den Alexandrinern, im hellenistischen Heidenthum bei den Neuplatonikern, entwickelte sich aber am meisten im Christenthum. Schon Paulus erwähnt (1. Kor. 12, 8.) eine christliche G. u. billigt dieselbe, eben so andere christliche Lehrer der folgenden Zeit. Dieser christlichen G. gegenüber entwickelte sich seit dem 2. Jahrh. durch Berührungen mit den anderen Religionen 2) eine G., welche von dem Standpunkt fremdartiger Bildung aus das Christenthum construiren wollte u. speculative u. metaphysische Fragen u. mythische u. symbolische Formen aus anderen Religionen mit demselben verband. Diese G. wird nun gewöhnlich G. schlechthin, die ganze Richtung derselben Gnosticismus u. die Anhänger derselben Gnostiker genannt. Aus der Platonischen u. bes. der Neuplatonischen Philosophie entnahm die G. namentlich den speculativen Stoff, so die Unterscheidung der idealen u. realen Welt, den Gedanken, daß diese im Abfall vom Göttlichen sich befinde, daß die Materie nur eine Schranke des Geistes u.[433] das körperliche Dasein eine Strafe sei. Dazu kamen phantastische Lehren, Symbolisches u. Mythologisches aus den älteren orientalischen, zoroastrischen u. indischen Religionssystemen, bes. die Emanationslehre u. der Dualismus. Bei Einigen wirkte auch die jüdisch-kabbalistische Theologie der Pharisäer ein. Wie dieser geistigen Richtung das Judenthum viel zu einfach, zu beschränkt, zu wenig geistig erschien, so genügte derselben auch die praktische, menschliche, dem Speculativen ferner liegende Tendenz des Christenthums nicht, u. sie vertiefte sich statt in abstracte Begriffe lieber in Anschauung lebendiger Persönlichkeiten. Daher wurde es Aufgabe des Gnosticismus, das innere Wesen der Gottheit, den Ursprung u. Zusammenhang aller Dinge, die Verhältnisse des Geisterreichs, den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, den Ursprung des Bösen, die Ursache der großen Verschiedenheit der menschlichen Geister zu ergründen. Bei der Lösung dieser Fragen gingen die Gnostiker von dem Absoluten aus u. stiegen in einer gewissen Stufenreihe zum Endlichen herab. Einige gingen dabei von der absoluten Einheit Gottes, als Urgrund aller Dinge, aus, die Meisten vom Dualismus, welcher zwei gegensätzliche Grundprincipien aufstellte; alle aber nahmen an, daß aus dem höchsten guten Grundwesen od. aus beiden eine Reihe höherer Geister (Äonen) ausgeströmt sei, welche sich in einer Reihenfolge aus einander entwickeln, u. je weiter von dem höchsten Principe entfernt, desto unvollkommener werden, wodurch dann der Übergang zum Kampf u. zur Vermischung mit der Materie vermittelt werde (Äonen- u. Emanationslehre). Da Gott ein absolutes u. vollkommenes Wesen sei, so könne er nicht die Well geschaffen haben, wo Gutes u. Böses, Licht u. Finsterniß gemischt sind, sondern die Schöpfung sei das Werk eines niedrigen, mit der sichtbaren Welt verwandten Geistes (Demiurg). Die mehr jüdisch-alexandrinischen od. platonisirenden Ansichten zugethanen Gnostiker sahen in dem Demiurg einen Äon, der nicht selbständig, sondern nach den vom höchsten Gotte ihm vorgehaltenen Ideen wirke, die er indeß nicht ganz verstehe. Da er nun auch mit dem ihm widerstrebenden Stoffe der bösen Materie (Hyle) zu thun habe, so könne diese Welt u. eben so die von ihm ausgehende Religionsstiftung des Akten Bundes nur eine sehr unvollkommene sein. Die dem persischen Dualismus zugethanen u. dem Judenthume feindseligen Gnostiker sahen dagegen in dem Demiurgen sogar ein dem höchsten Gotte geradezu entgegenstehendes Wesen, welches Keime aus der Lichtwelt gewaltsam an sich reiße, dieselben mit der groben Materie vermische u. sich durch die Schöpfung ein Reich zu gründen suche, in dem er, Gott widerstrebend, böse u. tyrannisch herrsche u. bes. das Jüdische Volk als Jehovah durch die alttestamentliche Verfassung hart bedrücke. Bei Allen waren also in der Welt u. im Menschen Geist u. Licht mit Materie u. Finsterniß vermischt, u. es mußte ein Hauptbestreben sein, jenes von der Herrschaft dieses zu befreien. Dies suchte die gnostische Moral entweder durch eine strenge Askese, od. durch die gröbsten Ausschweifungen zu erreichen, da in beiden Fällen die Materie ertödtet würde. Um aber die Menschen ganz zu erlösen, sandte der höchste Gott den Äon Christus, einen der reinsten u. seligsten Geister, auf die Erde, der indeß, um sich nicht zu beflecken, nach Einigen einen aus höherem Stoff gebildeten, nach Anderen einen nur scheinbaren Körper annahm (vgl. Doketen). Zur Begründung ihrer Lehren übten sie willkürliche Kritik. Obschon sie, bei dem noch nicht festgestellten Canon, viele alt- u. neutestamentliche Bücher als judaisirend verwarfen u. blos Paulus u. Johannes u. etwa Lukas anerkannten, fanden sie doch durch ihre Exegese, welche von grammatischen u. logischen Regeln der Auslegung nichts wußte u. bildliche u. eigentliche Ausdrücke willkürlich vermischte, durch den eigenthümlichen Gebrauch, den sie an Christi Parabeln machten, u. durch ihre Accommodationstheorie mannigfaltige Anknüpfungspunkte an die Heilige Schrift. Von der Kirche wollten sie sich übrigens nicht losreißen, sondern nur neben den Gemeindeversammlungen Schulen für christliche Mysterien stiften. Was endlich ihren Cultus anlangt, so folgten sie hier verschiedenen Richtungen; Einige ehrten denselben, Andere bezeichneten ihn als unnöthig u. nur für die niedrig stehenden Psychiker geeignet; Andere endlich verbanden ihn mit mystischen u. symbolischen Gebräuchen. Manche, z.B. die Markosianer, hatten eine doppelte Taufe, die psychische auf Christum als Menschen u. die pneumatische auf den himmlischen Christus. Auch gab es bei ihnen eine Art Letzter Ölung, bei Anderen Beschwörungsformeln für die Abgeschiedenen. Da sich der Gnosticismus nach u. nach entwickelte so kann er nicht von einem einzelnen Urheber abgeleitet werden, wohl aber kennt die Geschichte Gründer einzelner großer Parteien. Die meisten u. vorzüglichsten großen Systeme gingen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh. n. Chr. aus Ägypten u. Syrien hervor. Bei den ägyptischen Gnostikern ist eine besondere Hinneigung zur platonischen Philosophie u. der Emanationslehre vorherrschend, zu ihnen gehören namentlich Basilides, Valentinus, Karpokrates u. die Ophiten (s.d. a.); bei den syrischen Gnostikern herrscht der Parsismus u. Dualismus vor, so bei Saturninus, Bardesanes u. Tatianus (s.d. a.). Der eigentliche Gnosticismus starb bald aus u. nur einzelne Spuren erhielten sich bis ins 5. Jahrh. Seine Tendenz im Ganzen aber u. einzelne Grundzüge haben sich immer in der christlichen Kirche erhalten u. sind in einzelnen philosophischen Systemen wieder aufgetaucht, bes. gab man ihn den Tempelherren (s.d.) Schuld. In neuester Zeit erinnert an ihn bes. Schönherr mit seinem System. Vgl. Neander, Entwickelung der vornehmsten gnostischen Systeme, Berl. 1818; Schmidt, Über die Verwandtschaft der gnostisch-theosophischen Lehren etc. Lpz. 1828; Matter, Hist. critique du gnosticisme, Par. 1828, 2 Thle. (Preisschr.), deutsch von Dörner, Heilbr. 1833; Baur, Die christliche G., Tüb. 1835; Erdmann, De notionibus ethicis Gnosticorum, Berl. 1847; 3) der Versuch, die Gründe des Glaubens od. der Kirchenlehre nachzuweisen; vgl. Hase, Gnosis, Lpz. 1826–28, 3 Bde.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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