Haarröhrchen

Haarröhrchen

Haarröhrchen, 1) (Tubuli od. Capillares tubi) enge, an beiden Enden offene Röhrchen (gleichgültig ob aus Glas od. einer anderen Substanz) von sehr geringem inneren Durchmesser, in welchem die Oberfläche einer, durch Eintauchen in ein größeres Gefäß hineingebrachten, Flüssigkeit entweder convex od. concav, überhaupt durchaus gekrümmt sein muß. Ist die Oberfläche concav, so steigt die Flüssigkeit desto höher über den Stand der äußeren Flüssigkeit, je enger das Röhrchen ist; hat sie aber eine convexe Oberfläche, so bleibt sie desto tiefer unter dem äußeren Stande zurück. Von diesen Erscheinungen od. Capillarphänomenen nennt man die erste, welche alle Zeit dann erfolgt, wenn die Flüssigkeit das eingetauchte H. benetzt (z. B. Glas u. Wasser), die Capillaranziehung, Capillarattraction, Haarröhrchenanziehung die zweite aber, welche dann stattfindet, wenn die Flüssigkeit das eingetauchte H. nicht naß macht (z. B. Quecksilber u. Glas), Capillardepression, Haarröhrchenabstoßung. Die Kraft, durch welche diese Erscheinungen hervorgebracht werden, ist die Capillarität (s.d.). Die Capillarphänomene kommen so oft u. so allgemein vor, daß sie schon in den ältesten Zeiten beobachtet worden sind; zuerst soll Franciscus Aggiunti, Leibarzt des Großherzogs von Toscana, zu Anfang des 17. Jahrh. darauf aufmerksam gemacht haben. Mehrere auf ihn folgende Physiker suchten diese Erscheinungen zu erklären, unter denen Sinclair auffand, daß das H. benetzt sein müsse, um die angedeutete Wirkung hervorzubringen, u. [820] Isaac Vossius die Depression des Quecksilbers in gläsernen Röhren wahrnahm, wobei er glaubte, daß das Wasser vermöge seiner Zähigkeit an den Wänden fest halte. Berzelius erklärte die Erscheinungen, indem er annahm, daß das Wasser am unteren Theile der Röhre eine Art von Netz bilde u. durch die Wirkung biegsamer Hebel in derselben aufstieg. Am bekanntesten u. am meisten geachtet waren bis auf die neueren Zeiten die Untersuchungen von Musschenbroek u. de la Lande über dieses Problem. Ganz neuerlich aber ist man erst dahin gekommen, sie aus den verschiedenen Anziehungen, die zwischen den Theilen der Flüssigkeit selbst u. den Theilen der Röhre gegen die Flüssigkeit, in unendlich kleinen Entfernungen stattfinden. durch Hülfe mathematischer, zum Theil sehr schwieriger Rechnungen zu erklären. Eine solche Theorie der H. hat La Place in zwei Abhandlungen gegeben, übersetzt von Brandes u. Gilbert, u. in der Schrift: Theorie der Kraft, welche in den H. u. bei ähnlichen Erscheinungen wirkt, von La Place, Lpz. 1810. Ferner hat Gauß diesen Gegenstand in einer besonderen Abhandlung: Principia generalia theoriae figurae fluidorum in statu aequilibrii, Gött 1830, erläutert, sowie Poisson in seiner Nouvelle théorie de l'action capil laire, Par. 1831. Eine faßliche Darstellung der Theorie von La Place hat Kries im 9. Band von Gehlers Journal für die Chemie, Physik etc. gegeben. Nämlich es ergibt sich, daß verschiedene Flüssigkeiten in gleich weiten H. auf verschiedene Höhe steigen; in einerlei Flüssigkeiten verhalten sich die Höhen umgekehrt wie die Durchmesser der Öffnungen. Über mehrere Erscheinungen, die zur Capillaranziehung gehören (vgl. Capillarität). Dubuat hat Versuche über die Erscheinungen beim Ausfließen von Flüssigkeiten aus H. angestellt, nach welchen alle Flüssigkeiten aus einem H. langsamer ausfließen, als aus einer, in eine dünne Wand gebohrten Öffnung, die mit dem H. von gleichem Durchmesser ist; ferner, daß das Ausfließen verschiedenartiger Flüssigkeiten von verschiedener Dauer ist, bei übrigens gleichen Umständen, d.h. wenn die Flüssigkeit durch dieselben H. bei derselben Temperatur u. bei gleich hohem Stande ausfließt. So fließt z.B. ein Volumen reines Wasser schneller als ein gleiches Volumen Alkohol od. Salzwasser, langsamer als ein gleiches Volumen Quecksilber aus. Endlich ändert sich auch bei jeder Flüssigkeit die Dauer des Ausfließens eines gegebenen Volumens in dem Maße, als die Temperatur erhöht wird. Manche Physiker waren geneigt, das Aufsteigen des Saftes in lebenden Pflanzen als eine Wirkung der Capillaranziehung zu betrachten. Daß diese auch hierbei sich wirksam zeige, kann nicht bezweifelt werden, indem selbst abgeschnittene u. mäßig getrocknete Pflanzentheile noch die Wirkung ihrer haarröhrartigen Räume durch das Einsaugen von Flüssigkeiten zeigen. Indeß läßt sich das ganze Phänomen der Saftbewegung keineswegs auf die Capillarität zurückführen, wie nicht sowohl aus der Höhe folgt, bis zu welcher der Saft angehoben wird, als vielmehr daraus, daß derselbe aus lothrecht stehenden abgeschnittenen Pflanzentheilen ausfließt, was durchaus gegen die Capillartheorie streitet. Außerdem aber ergeben die von Muncke angestellten Versuche mit abgeschnittenen Weinreben, daß die den Saft auftreibende Kraft vorzüglich in den seinen Wurzelfasern zu suchen sei, also in einer dem Pflanzenleben eigenthümlichen Kraft. Auch das Anschwellen u. Verkürzen der thierischen Muskeln bei erhöhter Thätigkeit derselben ist zwar mit vermehrtem Andrängen des Blutes u. der Säfte in die Gefäße verbunden, aus einer Capillaranziehung aber deswegen nicht erklärlich, weil das Volumen der Muskeln sich dann nicht vermehrt, sondern vermindert, wie genaue Versuche hierüber ergeben haben. 2) H. bei Conserven, s. Kryptogamen.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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