- Sterblichkeit
Sterblichkeit (Mortalitas), 1) das nothwendige Gesetz, nach welchem alles Lebende früher od. später dem Tode verfällt; 2) das Verhältniß, in welchem die Todesfälle, welche sich unter einer gewissen Menge lebender Individuen in einem bestimmten Zeitraum ereignen, zu der Gesammtzahl der Lebenden stehen. Die Feststellung der letzteren Proportion ist in physiologischer, staats- u. volkswirthschaftlicher, so wie medicinalpolizeilicher Hinsicht von großer Wichtigkeit, u. eine Menge von Instituten, wie Lebensversicherungen, Sterbekassen, Rente- u. Pensionsanstalten können nicht mit Sicherheit begründet werden, ohne daß genau bekannt ist, welchen Gesetzen die S. entweder einer Bevölkerung überhaupt od. auch nur einer bestimmten Gattung der Bevölkerung folgt. Die Grundlage darauf bezüglicher Berechnungen haben die Sterblichkeitstabellen (Mortalitätstabellen) darzubieten, d.h. tabellarische Aufzeichnungen, aus denen die Zahl der Geborenen u. Gestorbenen, die durchschnittliche Lebensdauer, sowie die Zahl der ein bestimmtes Alter Erlebenden mit Zuverlässigkeit für einen bestimmten Kreis von Menschen ersehen werden kann. Je genauer diese Verzeichnisse sind, um so sicherer läßt sich das Sterblichkeitsverhältniß feststellen. Zur Aufstellung solcher Verzeichnisse gehören außer Aufzeichnungen der Kirchenbücher u. Civilstandsregister namentlich die verschiedenen Lebensstufen, das Geschlecht, der Unterschied zwischen verheiratheten, unverheiratheten u. verwittweten Personen, Stand u. Gewerbe, die Todesursachen, die Vermögensverhältnisse, Lebens-, Ernährungsweise der Gestorbenen etc. Überall zeigt die Erfahrung, daß die S. in den ersten Lebensjahren sehr bedeutend ist, dann abnimmt u. nach dem Beginne des reiferen Alters wieder stetig wächst, wobei indessen bei den Frauenspersonen die Jahre der eintretenden Geschlechtsreife u. der aufhörenden Fruchtbarkeit, so wie die mit der Schwangerschaft u. Geburt eintretenden Gefahren noch merkliche Abweichungen hervorbringen. Ein anderer Erfahrungssatz ist, daß die S. mit der Dürftigkeit abnimmt, bes. pflegt die S. der Kinder bei den Dürftigen viel stärker zu sein, als bei den Wohlhabenden. Hinsichtlich des Geschlechtes ist die S. im Kindesalter bei Knaben höher als bei Mädchen; von den Ersteren sterben im 1. Lebensjahr immer mehr als von den Letzteren. Ebenso zeigt sich auch im höheren Alter ein Vorzug des weiblichen Geschlechtes, so daß es weit mehr alte Frauen als Männer, namentlich weit mehr Wittwen als Wittwer gibt, u. nur die Fälle von ganz ungewöhnlich hohem Alter betreffen meist Männer. Nach einer schon im Alterthum von den Römern aufgestellten Wahrscheinlichkeitsberechnung haben Personen im Alter von 0–20 Jahren noch 30 Jahre weiter, von 20–25 I. noch 28 I., von 25–30 I. noch 25 I., von 30–35 I. noch 20 I., von 40–45 I. noch 18 I., von 45–50 I. noch 13 I., von 50–55 I. noch 9 I., von 55–60 I. noch 7 Jahre zu leben. Im Allgemeinen rechnet man, daß von einer bestimmten Menschenzahl aller Altersklassen nach etwa 331 Jahren mindestens die Hälfte gestorben ist u. daß also auf ein Jahrhundert drei Generationen kommen. Unter 1000 Gestorbenen waren im Preußischen Staate im Jahre 1849 224 Kinder bis zum 1. Lebensjahre, 151 vom 1.–5., 54 vom 5.–10., 19 vom 10.–15. I., 189 erreichten ein Alter über 60 Jahre; in England in gleicher Weise im Jahre 1840, 215 im 1. Lebensjahre, 189 vom 1.–5. I., 56 vom 5.–10., 27 vom 10.–15., 220 über 60 I. altgewordene; in Belgien für die Jahre 1841–50 betrug die Zahl der im 1. I. Gestorbenen 187, vom 1.–5. I. 153, vom 5.–10. I. 48, vom 10.–15. I. 28, der über 60 I. altgewordenen 266. Hierbei ist übrigens noch zu bemerken, daß sowohl örtliche als zeitliche Verhältnisse die Gesetze der S., wie sie vielleicht für ein ganzes Land im Allgemeinen festgestellt sind, noch wesentlich verändern. Sowohl die Jahreszeiten, als auch klimatische Einflüsse, welche an gewissen Orten wirksam werden, erlangen hierbei Bedeutung. In mehren Gegenden ist in den Wintermonaten, in anderen in den Sommermonaten die S. eine stärkere; anders stellt sich die S. an der See, anders im Binnenlande, anders im Norden als im Süden, anders auf dem Platten Lande als in den Städten. Die letzteren, bes. die großen Städte haben in der Regel eine weit höhere S., als das Platte Land. Bei einem Vergleich früherer Zeiten mit den jetzigen ergibt sich, daß die S. in neuerer Zeit eine wesentlich geringere geworden ist; z.B. in Paris starb im 14. Jahrh. jährlich 1/16–1/17 im 17. Jahrh. dagegen nur 1/25–1/26 der Bevölkerung, in den Jahren 1819–23 aber sogar nur 1/30 derselben. Gleichergestalt findet sich, daß gegenwärtig die Menschen im Durchschnitt ein längeres Leben haben, als früher, daher die S. jetzt durchschnittlich auf ein späteres Lebensalter fällt; so starben in Frankreich um 1775–78 von 100 Geborenen in den ersten 10 Jahren durchschnittlich 49,9, bis zu 50 J. 74,2, bis zu 60 I. 82 Procent; dagegen um das Jahr 1826 von der gleichen Zahl Geborener in den ersten 10 Jahren nur 38,3, bis zu 50 J. nur 65, bis 60 I. nur 77 Proc. Die mittlere Lebensdauer ist für die gegenwärtige Zeit in Großbritannien auf 34,36 Proc., in Schweden auf 32,14, im Preußischen Staate auf 27,3, in Baiern auf 30,5, in Belgien auf 21,5, in Hannover auf 37 Jahre berechnet worden. Vgl. Lebensdauer. Die ersten umfassenden Sterblichkeitstabellen stellte gegen Ende des 17. Jahrh. der englische Astronom Halley nach den Todtenregistern der Stadt Breslau (An estimate of the degreas of mortality of mankind, drawn of tables of the city of Breslaw, Lond. 1691) auf; die Todtenlisten der Stadt London wurden zu gleichem Zwecke von Th. Simpson (The doctrine of annuities and reversions, Lond. 1742) benutzt. Von Deutschen beschäftigten sich um dieselbe Zeit mit gleichen Aufgaben Euler (Recherches sur la mortalité et la multiplication du genre humain, Berl. 1740) u. Süßmilch (Göttliche Ordnung des Menschengeschlechts); von Franzosen Deparcieux (Essai sur la probabilité de la durée de la vie humaine, Par. 1746, u. Réponse aux objections contre l'essai, ebd. 1746); von Holländern Kerseboom, von Engländern noch bes. R. Price (Observations on reversionary pagments, Lond. 1769, 7. Aufl. 1812). Neuere umfassende Arbeiten auf diesem Gebiete sind: Quetelet, Recherches sur la reproduction et la mortalité de l'homme aux différents âges, Brüssel 1832; Finlaison, Report on the evidence and elementary facts on which the [781] tables of life annuities are founded, 1829; Casper, Die wahrscheinliche Lebensdauer der Menschen, Berl. 1835; Hoffmann, Einleitung zu neuen Untersuchungen über die wahrscheinliche Dauer des menschlichen Lebens, ebd. 1837; Moser, Die Gesetze der Lebensdauer, ebd. 1839; Ducpetiaux, De la mortalité à Bruxelles, Brüssel 1844; De Neufville, Lebensdauer u. Todesursachen 22 verschiedener Stände, Frankf.; Buchner, Statistik der sterfte in Amsterdam, 1852.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.