- Tataren [1]
Tataren (eigentlich Tattern, unrichtig Tartaren), großer Volksstamm in Mittelasien, Nordasien u. Osteuropa. Das Wort T. soll nach Ein. von dem angeblichen Stammvater der T., Tatar, nach And.[270] vom Fluß Tartar herkommen; es bedeutet aber Zinsleute, Zinspflichtige (nämlich der Kitanen), u. wurde ihnen erst im 10. Jahrh. n. Chr. od. noch später beigelegt (s. Tataren, Gesch.). Die Verdrehung des Worts T. in Tartaren soll vom König Ludwig XI. von Frankreich herrühren, welcher die T. Tartaren, d.i. Unterirdische, den Tartarus Bewohnende, nannte. Die eigentlichen T. nennen sich Turkomannen, Turnken, Türken, andere u. bes. die östlichern u. nördlichern, nach den einzelnen Volksnamen, so Nogaier, Usbeken, Kirgisen etc. Im engsten Sinne nennt man nach dem Vorgange der Türken, bes. der Russen, A) Eigentliche T., die meist muhammedanischen Bewohner der Länder nördlich des Schwarzen Meeres, am untern Dniepr u. Don, an der Wolga, die Stämme in Taurien, im Königreich Kasan u. Astrachan u. bis nach Sibirien hinein, sowie zerstreut im übrigen Westrußland u. Bessarabien, an der Donau, in Bulgarien, im Balkan, bis Constantinopel hin u. in Persien. Sie waren sonst das Herrschervolkin Taurien, Kasan, Kaptschak u. Astrachan, u. den Russen im 13. bis 16. Jahrh. furchtbar (s. Tataren, Gesch.), dann wohnten sie mit den Russen vermischt zusammen, schmelzen aber immer mehr. Sie betrugen in Rußland, bis auf die Auswanderung nach der Türkei in neuester Zeit (s. unten S. 275) 2,500,000 M., in der Türkei u. Persien 500,000 M., zusammen also etwa 3 Millionen. Sie sind durchaus kaukasischer Race, mittler Größe u. mehr hager als fett. Ihr Gesicht ist oval, Hautfarbe mehr weiß als gelb, Mund klein, Augen groß, schwarz u. bes. glänzend, Haare dunkelbraun, Zähne fest u. weiß, Aussehen munter, das der Weiber bei vielen Stämmen selbst schön. Sie sind offen, ernst, muthig, freiheitliebend, theilnehmend, friedfertig, zugleich aber etwas träge u. einige Stämme zu Räubereien geneigt. Die Kleidung der türkischen u. taurischen T. gleicht der orientalischen, die der übrigen mehr der polnischen. Die Männer der letztern tragen einen mit Pelz verbrämten Kaftan, einen Paß (Gürtel) von Seide mit Gold durchflochten, hohe persische Stiefeln u. eine tuchene, kegelförmige, mit Pelz besetzte Mütze; die Weiber weite Beinkleider u. darüber im Sommer ein Hemde von Seide od. Kattun, im Winter einen Rock von wollenem Zeug, auch wohl mit Pelz besetzt. Dabei lieben die T. den Schmuck u. das Bunte u. sticken geschickt u. geschmackvoll in bunten Saffian u. Seide mit Gold u. Silber. Selten läßt sich eine tatarische Frau ohne Schleier sehen. Bei den muhammedanischen wie bei den heidnischen T. ist Vielweiberei gewöhnlich, u. die Weiber wurden sonst aus den geraubten Sklavinnen ausgewählt, werden jetzt aber meist gekauft, allein das Leben der Weiber ist freier, als bei andern Muhammedanern. Selten hat ein T. mehr als zwei Frauen. Die Wohnungen der T., mit Ausnahme der sibirischen, sind reinlich, gleichen aber den orientalischen Häusern. Breite Sitzbänke laufen rings um die Zimmer; statt der Öfen sind Kamine; Gärten lieben die seßhaften T. sehr. Die nomadischen T. wohnen in Jurten, welche sie in Kibitken (s.d.) mit sich herumführen. Oft ist die Kibitke zugleich der Wohnplatz der Familie. Sonst waren alle T. Nomaden, jetzt treiben die meisten Ackerbau u. Viehzucht, wohnen in Dörfern, noch häufiger aber in Städten, treiben Handwerke mit Geschick u. nehmen eigene Quartiere ein. In der Türkei verrichten die T. bes. den Courierdienst, auch werden dort Reisenden stets T. als Escorte u. Führer beigegeben, welche als eine Art fliegende Polizei sehr dictatorisch verfahren, Lebensmittel u. Pferde requiriren, sonst aber aufmerksam für ihre Reisenden sind. Die meisten eigentlichen T. sind Muhammedaner, doch weniger fanatisch, fatalistisch u. unduldsam als die Türken u. Perser; nur wenige sind Christen, viele, bes. die sibirischen T. u. die Kalmücken sind Anhänger des Lamaismus. Daher haben die Vorsichtsmaßregeln gegen die Pest u. die Blatterimpfung Eingang bei ihnen gefunden. Auch haben sie mehr Neigung zu Kunst u. Wissenschaft; in fast allen tatarischen Dörfern sind Schulen. Sie schreiben mit Rohr u. Tusche u. von oben nach unten. Über ihre Sprache s. Tatarische Sprachen. Jede Horde hat eigenen erblichen Adel (Mursen). Einer unter diesen (Baschlik od. Khan) führt die Regierung des Stammes. Außerdem haben die Geistlichen (Mollahs) großen Einfluß. Das öffentliche Wohl wird in eigenen Volksversammlungen berathen. Die seßhaften T. zählen nach Dörfern, die nomadischen nach Familien (Kesseln, Kibitken, Bogen), d.h. Familien zu 6–8 Personen. Mehre Kessel od. Dörfer zusammen bilden eine Wolafte, eine Art Bezirk. Die eigentlichen T. zerfallen wieder in: a) Taurische (Krimsche) T., in Taurien u. Bessarabien, sind sämmtlich Muhammedaner; b) Kasansche T., in den Gouvernements Wilna, Räsan, Wladimir, Tambow, Kasan, Simbirsk, Pensa u. Saratow; c) Tschitaks, am Ausfluß der Donau, im Balkan u. in der Türkei; d) Budziaken (Budjaken), in Bessarabien; e) Turalinzen (Sibirische T.), in den Gouvernements Tobolsk, Tomsk, Perm u. Wiätka; sie zerfallen in eigentliche Turalinzen (u. diese wieder in Taraische, Tobolskische, Tjumenskische u. Tomskische), Obische T. (zwischen Ob u. Tom, im Gouvernement Tomsk, Nomaden u. seßhaft, Christen u. Schamanen), Tschulymer, Barabinzen (im Gouvernement Tobolsk, Muhammedaner), Katschinzen, Kistimer (getauft, am Jenisey bei Tomsk), Tuliberien (Schamanen, ebenda), Biriussen, Sajaner (am Jenisey u. Sajanischen Gebirge), Abinzen (Abaler, am Kolywan), Werchotomsker, Beltiren (Schamanen u. im Gouvernement Tomsk wohnend). B) T. im weiteren Sinne, die Völkerschaften kaukasischen Stammes, welche, nach den Pelasgern, Celten u. Slawen von dem Kaukasus ausgehend, sich nach allen Richtungen ausbreiteten. Gestalt, Sitten u. Gewohnheiten die der eigentlichen T., doch nomadisiren einige Stämme ganz u. wohnen in Jurten. Sie hausen um das Kaspische Meer bis zum Schwarzen Meer u. darüber hinaus, in Taurien, Kasan, Astrachan, Bessarabien, Sibirien, in der Großen u. Kleinen Tatarei, bis nach China, in andere Völker eingesprengt. Außer den eigentlichen T. rechnet man 14 Mill. T. dieser Art. Zu ihnen gehören die Türken; sie zerfallen: a) in die Osmanischen Türken, ein eigenes Volk, aber anerkannte T.; sie reden einen von dem Tatarischen abgeleiteten Dialekt, s. Türken; b) Turkomanen (Osttürken), sie wohnten sonst in den Gebirgen u. Wüsten von Turkestan, sind aber mehr an den Aralsee u. an das Kaspische Meer gedrängt. Auch in Rußland gibt es einzelne Stämme von ihnen. Sie theilen sich in Turkestaner, von denen die Osmanen ausgingen; in Karakalpaken (Schwarzmützen, Mankat), östlich des Aralsees an den Mündungen des Sirdarja, in Dschaggatai; u. in die[271] eigentlichen Turkomanen od. Truchmenen, zu beiden Seiten des Kaspischen Meeres. Die Truchmenen zerfallen wieder in die Turkomanen von Mangischlak (welche aus den Stämmen Abdal, Buruotschuk, Igdyr, Bulsatschi u. Tschaudyr bestehen) u. in die Turkomanen von Astrabat (aus den Stämmen Takejaumur, Golschan u. Ugordschai zusammengesetzt). c) Die Bokharen (Bukharen), in Bokhara, innerhalb Dschaggatai, etwa 2–3 Mill., gebildet u. auch den Türken sehr nahe kommend; doch hält sie Ritter für Mischlinge der Türken mit den Hindu-Banianen. Einzelne nomadisiren auch in den russischen Gouvernements Tobolsk, Tomsk, Irkutsk, Orenburg u. Astrachan. C) Noch offenbar tatarischen Ursprungs, doch schon mit mongolischer Beimischung, sind: a) die Nogaier (Nogaitataren), welche klein, dick, mit mehr ins Olivenfarbene spielendem Teint, etwas breiterem Gesicht, tiefen Augen u. mehr eingebogener Nase sind, als die andern T., auch weniger Bart haben u. zuweilen zu den T. A) gerechnet wurden. Sie bewohnen das Land an den Abhängen des Kaukasus zwischen Taurien u. dem Kaspischen Meere. Sie sind meist Nomaden u. leben unter Jurten; sie üben die Blutrache u. sind Muhammedaner. Zu ihnen zählt man die Kubanischen Nogaier, in der Wolgasteppe u. am Kaukasus (die Stämme Naurus, Kassan, Kaspolat, Kantschak, Manzur Oglu, Astrachanische Z. lttataren); die Kundowarer, nomadisiren an der Achtuba u. am Kaspischen Meere; die Kumyken, Nachbarn der Khazaren am Fuße des Kaukasus bei dem Kaspischen Meere; die Basianen (Tatar Kuscha), Abkömmlinge der Zychen, im Kaukasus (Stämme: Karaktschai, Tscherigä u. eigentliche Basianen od. Balkar [Malkar Am]). Die Nogaier in Taurien sind in neuester Zeit fast sämmtlich in die Türkei ausgewandert, s. unten S. 275. Andere tatarischmongolische Stämme sind: b) die Kirgisen (s.d.), in der Kirgisensteppe; c) die Usbeken, sonst Herren des Khanats Kaptschak in Dschaggatai, bes. in Usbekistan u. den Khanaten Bokhara u. Khiwa nomadisirend, klein, untersetzt, von breitem Vorkopfe, hohen Backenknochen, dünnem Bart, ins Olivenfarbene spielender Hautfarbe; essen gern Pferdefleisch, trinken, wie die Nogaier u. andere nomadisirende T., Kumiß (s.d.), sind gute Krieger, fechten aber nur zu Pferde u. in drei Hansen, von denen jeder einen Angriff macht; mißlingen diese, so flieht das Ganze. Sie reden einen tatarischen Dialekt Sie zerfallen in die eigentlichen Usbeken, Taschkenten, mit festen Wohnsitzen in Turkestan, noch am reinsten von mongolischer Beimischung; Araler, am unteren Amu, u. Khiwaer (Khiwensen), aus Khiwa; d) die Teleuten, in dem Gouvernement Tomsk; e) die Jakuten (Saha), Nomaden, im russischen Gouvernement Irkutsk; f) die Tadschiks, Mischlinge von Ureinwohnern, Usbeken u. Türken, bilden mit den Usbeken den Hauptstamm in Dschaggatai; g) Kaffern, in der dschaggataischen Provinz Kasseristan, mit den Hindus u. T. gemischt. D) Volksstämme, welche nur sehr wenig von den T. haben u. fast ganz Mongolen sind. Sie sind entschieden Mongolen u. ihnen kommt der Name nur irrthümlich zu; dahin gehören: a) die Baschkiren (Buschkurt), am Ural u. der Wolga; b) Meschtscherjäken, an der Oka u. im Orenburgischen, u. c) die Kalmücken; d) die Mandschutataren od. Njudschen, in der Mandschurei u. in China; e) die Tungusen, f) die Dauren, g) die Turfanen, h) Kuschgarenn. i) Yarkanden, welche noch tatarischen Dialekt reden etc. E) Im weitesten Sinne solche Stämme, denen der Name T. vielleicht irrthümlich zukommt, während sie eigentlich Mongolenstämme sind. Dieses schreibt sich aus den Zeiten Dschingiskhans her, wo die Mongolen, sich nach Westen verbreitend, zuerst auf die T. stießen, diese bezwangen u. sie mit sich weiter gegen die nächsten Völker fortrissen. Diese benachbarten Völker, namentlich die Russen, Klein-Russen, Lithauer, Polen, Ungarn, Schlesier u. Türken, nannten die Horden ohne Unterschied T., indem sie die räuberischen T. zum Theil schon kannten u. nur wenige Mongolen mit ihnen kamen.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.