Volksfeste

Volksfeste

Volksfeste, sind Feste, an welchen sich das ganze Volk in der Gesammtheit aller seiner Glieder, od. wenigstens nickt ausschließend blos einzelne Stände u. Klassen desselben betheiligen. In dem ersteren Falle sind sie wahre Nationalfeste, in dem andern gibt es natürlich sehr viele abgestufte Grade rücksichtlich ihrer Allgemeinheit, ihres Umfangs, ihrer geographischen Verbreitung, ihres Zwecks u. ihrer Bedeutung, so daß der Gebrauch des Wortes bisweilen auch auf die Bezeichnung local gemeinsamer Feierlichkeiten, Vergnügungen u. Lustbarkeiten zusammenschrumpft. Die Bedingungen wirklicher National- u. V. sind ein lebendiges u. starkes Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit, eine durch alle Stände hindurchgehende gemeinsame Bildung u. Lebensanschauung, die Gleichartigkeit des religiösen Glaubens, das Interesse an gemeinsamen historischen Erinnerungen, eine solche Freiheit des öffentlichen Lebens, daß kein äußerer Druck der Kundgebung der nationalen Gefühle hindernd entgegentritt, endlich selbst Gelegenheiten des äußeren Verkehrs, durch welche die örtliche Vereinigung größerer Menschenmengen möglich wird. Die Veranlassung der Entstehung bestimmter V. liegt theils in dem religiösen Glauben u. den auf ihm beruhenden Gebräuchen, theils in politischen u. rechtlichen Einrichtungen, theils in der Erinnerung an die Nationalhelden od. an bestimmte, für die Nation wichtige u. folgenreiche Ereignisse, in der Vorliebe für gewisse leibliche u. geistige Übungen, welche dann um die Ausübenden einen großen Kreis teilnehmender Zuschauer versammeln, od. endlich auch selbst in dem Streben nach gemeinsamer Befriedigung allgemein verbreiteter Neigungen u. Leidenschaften. So wie daher der religiöse Glaube, der politische Zustand, der Charakter u. die Gefühlsweise, die Gewohnheiten u. Sitten eines Volks sich in seinen V-n aussprechen, so üben diese auch wieder rückwärts einen Einfluß auf Sitte u. Charakter des Volts aus u. sind ein in culturhistorischer Beziehung wichtiges Merkmal dessen geistigen u. sittlichen, geselligen u. politischen Zustandes. Echte Nationalfeste können ihre Grundlage nur in dem finden, was in irgend einer Beziehung einen idealen Gehalt hat; die religiöse u. kirchliche Feier (Opfer od. Predigten), die Aufzüge, Processionen u. Umgänge, der Schmuck der Kleidung, die Gesänge, Schmäuße u. Spiele, die mannigfaltigen ernsten u. heiteren Symbole bei solchen Festen sind dann nur der sichtbare Ausdruck der innerlich gehobenen Stimmung. Fehlt dieser ideale Gehalt gänzlich, so wird aus dem V. ein Volksvergnügen, eine allgemeine Belustigung, welcher man sich mit wenig Witz u. viel Behagen hingibt; u. wirklich ist vieles von dem, was jetzt als Volksfest bezeichnet wird, wenig mehr als ein gemeinsames Loslassen von der täglichen Arbeit, ein allgemeines sich Hingeben an gemeinsame Genießungen. An Reichthum, Anmuth u. Gehalt ihrer V. hat wohl kaum eine Nation die alten Hellenen übertroffen; neben ihren großen Nationalspielen (s. Kampfspiele), voran die Olympischen, welche jeder geistigen u. leiblichen Kraft einen Übungsplatz des edelsten Wettstreites eröffneten, umschlang in ihrer Blüthezeit eine Reihe ernster u. anmuthiger V. ihr ganzes politisches u. religiöses Leben. Einen wesentlich andern Charakter hatten die V. der Römer bei den Triumphzügen ihrer siegreichen Armeen, den Massenkämpfen gefangener Menschen u. Thiere im Circus, den Saturnalien (s.d.). Bei den Juden war das Passah ein Nationalfest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Auch die V. der alten Germanen hatten eine religiöse Grundlage u. knüpften größtentheils an den Wechsel der Jahreszeiten an. So die Feier der Winter- u. Sommersonnenwende (das Julfest um die Weihnachtszeit u. das Johannisfest), die verschiedenen Frühlings- u. Herbstfeste, das Erntedankfest[659] etc. Der christliche Klerus benutzte nicht nur diese heidnischen Festzeiten, um durch Verlegung christlicher Feste auf sie den letzteren leichteren Eingang zu verschaffen, sondern er suchte auch manchen heidnischen Festgebräuchen einen kirchlichen Sinn unterzulegen, während andere ohne Beziehung auf die kirchliche Festfeier fortbestanden u. ihr Dasein ohne Erinnerung an ihre ursprüngliche Bestimmung in den Gewohnheiten u. Sitten des Volkes fortsetzten, so daß die fortgesetzte Wiederholung derselben eigentlich auf den Namen eines V-s keinen Anspruch machen konnte. Hierher gehören z.B. die Oster- u. Johannisfeuer, das Todaustreiben im Frühjahr, die Ährenbüschel, welche man bei der Ernte auf dem Felde stehen läßt etc. Überhaupt kann etwas sehr volksthümlich sein, wie das Morraspiel in Italien, das Criquetspiel, das Bozen u. die Hahnenkämpfe in England etc., ohne daß dessen Übung auch schon ein Volksfest ist; zu dem letzteren gehört die wirkliche Theilnahme größerer Menschenmassen aus verschiedenen Ständen, wie z.B. bei den Gladiatorenspielen in Rom, den Wettrennen in England, den Stiergefechten in Spanien, den Vogelschießen in Deutschland, der Feier des Carnevals in Italien, den Schwingfesten in der Schweiz etc. Rein kirchlichen Ursprungs waren die V., welche sich an die Kirchweihen, so wie an die öffentlichen Aufführungen dramatischer Spiele (Mysterien, Mirakel) am Oster- u. Pfingstfeste anknüpften. Die mittelalterlichen Turniere waren Kraftübungen u. Schaustellungen für den Ritterstand, V. für die zuschauende Masse. Wo Verkehrsverhältnisse größere Menschenmassen zusammenführen, wie auf Messen u. Jahrmärkten, mischen sich leicht Elemente u. Lustbarkeiten ein, welche an V. erinnern.

Wo der religiöse Glaube seine Unbefangenheit u. Unmittelbarkeit verliert, wo das politische Leben seinen volksthümlichen Charakter einbüßt u. durch absolutistischen Druck u. polizeiliche Beaufsichtigung verkümmert, wo die Glieder eines Volks durch konfessionelle Gegensätze u. staatliche Zerrissenheit, durch eine vielfach abgestufte u. gespaltene Cultur, durch verschiedenartige, theilweis entgegengesetzte Interessen der einzelnen Staude unter einander getrennt sind, da wird auch der Trieb nach gemeinsamen V-n allmälig absterben od. sich nur noch in local beschränkten Kreisen dürftig erhalten. Alle diese Ursachen haben seit der Reformation u. noch mehr seit dem Dreißigjährigen Kriege in Deutschland zusammengewirkt u. mit der Frische n, Kraft seines Volkslebens auch seine V. erstickt; einzelne Versuche sie auf künstliche Weise wieder zu beleben od. neue gleichsam zu stiften sind der Natur der Sache nach in der Regel gescheitert u. erst die letzten Jahrzehende haben mit der Wiederbelebung u. Erstarkung des nationalen Bewußtseins auch wieder gemeinsame Feste entstehen sehen, welche auf den Namen von V-n, ja selbst Nationalfesten Anspruch machen können. Hierher gehören die gemeinsamen Sänger-, Turner- u. Schützenfeste; vorzugsweise können die Säcularfeier des Geburtstags Schillers im I. 1859 u. die beiden im I, 1863 in Leipzig gefeierten Feste, das allgemeine deutsche Turnfest u. die 50jährige Erinnerungsfeier an die Völkerschlacht bei Leipzig, wegen der Allgemeinheit der Betheiligung aller Stände u. aller Stämme des deutschen Volks u. der Gesinnung, welche in ihnen einen würdigen u. edlen Ausdruck gefunden hat, wirkliche Nationalfeste genannt werden. Die Geschichte u. Charakteristik der V. in verschiedenen Zeitaltern u- bei verschiedenen Völkern ist noch nicht zum Gegenstande einer speciellen Darstellung gemacht worden; das Material dazu ist in den Werken über Cultur- u. Sittengeschichte zerstreut; Werke wie Strutt, The sports and pastimes of the people of England, Lond. 1801–10, 3 Bde., Brand, Observations on popular antiquities, herausg. von Ellis, ebd. 1841, 3 Bde., beziehen sich ebensowohl auf Volksgebräuche u. Volksbelustigungen, als auf V. Über Deutschland vgl. Reimann, Deutsche V. im 19. Jahrh., Weim. 1839.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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