- Gesang
Gesang, 1) die Vereinigung der Musik u. Sprache in der menschlichen Stimme zu künstlerischem Zwecke, wodurch Empfindungen in abgemessenen u. ihrer Höhe nach bestimmbaren Tönen ausgedrückt werden. Der G. ist blos den Menschen u. den Vögeln eigen, da das Zirpen der Singcicaden nur ein wohlklingendes Reiben mit den Flügeln ist. Die rohesten Völker singen gern, u. wo die Rede nicht ausreicht, gibt der Mensch seinen Gefühlen durch G. Luft. Die verschiedenen, hierbei auszudrückenden Affecte werden dadurch, ob die Tonart aus Moll od. Dur geht, durch die Tonart selbst, durch das schnellere od. langsamere Aufeinanderfolgen der Töne, durch die Taktart etc. bezeichnet. Der G. ist natürlich od. künstlich; durch den natürlichen G. drückt der Sänger seine Gefühle ungekünstelt aus; der künstliche G. wird nach Regeln der Kunst vorgetragen. Zu einem guten künstlichen G. gehört eine gute Stimme von hellem, starkem u. gleichem Ton, Biegsamkeit u. Umfang, Kenntniß der Noten, Fertigkeit die Intervallen gut, rein u. gleichmäßig zu intoniren, richtiges Taktgefühl, deutliche Aussprache der Wörter u. ein guter Vortrag. Alle diese Eigenschaften werden in besonderen Gesangschulen (Singschulen) nach der Gesanglehre, d.h. dem Inbegriff der Regeln, nach denen Musik u. Sprache zu künstlerischen Zwecken verwendet werden, ausgebildet. Gewöhnlich geben Cantoren, Organisten u. ähnliche, mit der Musik immer beschäftigte Personen Gesangunterricht, in größeren Städten sind die Gesangschulen aber in eigenen Conservatorien für Personen, die sich dem G. ganz widmen wollen, vereinigt. Unterricht der Jugend im G. ist als wichtiges Bildungsmittel in neuerer Zeit, bes. durch Pestalozzi, in allen Schulen eingeführt worden. So verschieden auch die von den verschiedenen Lehrern beim G. angewendeten Methoden sind, so bezwecken doch alle die Ausbildung der vier Grundelemente des Gesanges: des melodischen, sofern Töne von verschiedener Höhe auf einander folgen; des rhythmischen, sofern die Töne in Hinsicht auf ihre Dauer gegen einander abgemessen sind; des dynamischen, sofern die Töne nach ihrer Stärke in bestimmten Verhältnissen zu einander stehen; des harmonischen, sofern mehrere Töne auf eine geregelte Weise gleichzeitig zum Gehör gebracht werden. Da der G. selbst entweder Choral-, od. Figural-, od. Solo-, od. Chorgesang, ein- od. mehrstimmig ist, so übt der Gesangunterricht darin. Die Übungen des G-es bezwecken die Ausbildung des Tonanschauungsvermögens, bestehend in Treffübungen, Taktübungen u. Übungen zur Kenntniß der Harmonie; die. Ausbildung der Stimme, rein äußerlicher, gymnastischer Art; u. Vermittelung des Einflusses des G-es auf das Gemüthsleben, indem wirkliche Gesänge einstudirt u. kunstmäßig ausgeführt werden. – Der G. war in frühesten Zeiten wohl stets, wie noch jetzt bei rohen Völkern, mit Tanz od. Instrumentmusik begleitet. In ähnlicher Art sangen ganze Chöre, z.B. nach dem Durchgang der Israeliten durch das Rothe Meer, zwei Chöre Sänger, deren G. von Instrumenten u. Tanz begleitet waren. David verscheuchte dem König Saul mit G. u. Harfenspiel den Trübsinn u. ließ seine Psalmen beim Gottesdienst durch, von Sangmeistern geleitete Chöre singen. Ähnliches fand auch bei den Opfern der Ägyptier u. Griechen statt, wo den Göttern Hymnen gesungen wurden u. Tänze die Opfer begleiteten. Bei den Griechen sang Homer u. die Homeriden (Rhapsoden), nur von der Lyra begleitet, die Nationalepopöen, u. die Chöre auf den Theatern ihre Gesänge. Auch kamen bei den Alten Kriegsgesänge (vgl. Tyrtäos) vor. Nach der Gattung des G-es (religiöser, epischer, gnomischer) schieden sich die griechischen Sänger[260] (Aoden) in verschiedene Schulen (Sänger- u. Dichterschule). Auch bei den Römern waren Gesänge bei den Opfern, bei der Tafel u. sonst gewöhnlich. Bei den Celten u. Germanen war es das Geschäft der Barden u. Skalden, Lieder bei den Opfern u. einheimische Heldenthaten zur Ergötzlichkeit des Volkes zu singen. In der mittleren Zeit fangen in Nordfrankreich die Trouveren, in Südfrankreich die Troubadoure (s.u. Französische Literatur); in England die Minstrels (s.u. Englische Literatur); seit dem 12. Jahrh. in Deutschland die Minne-, seit dem 14. Jahrh. die Meistersänger (s.u. Deutsche Literatur). Mit dem Emporkommen der christlichen Religion begann für den G., der als Kirchengesang bald allgemein gewöhnlich wurde, eine neue Epoche. Ambrosius, Bischof von Mailand, u. der Papst Gregorius thaten viel zur Vervollkommnung desselben. Dennoch hatte er noch nicht den ernsten strengen Charakter, durch den er sich später auszeichnete, u. die Schriftsteller des Mittelalters eisern lehr gegen die Frivolität u. Künstelei in jener Zeit, so wie gegen das Singen von geistlichen Liedern nach weltlichen Melodien. Erst im 10. Jahrh. begann, da bisher unisono gesungen worden war, der harmonische drei- u. vierstimmige G., u. die Theorie der Musik wurde durch Guido von Arezzo, Gerbert u.a. festgestellt u. erhalten. Schon zu Karls des Großen Zeiten zeichneten sich die Italiener durch Singfertigkeit aus u. dieser Kaiser suchte auch die Deutschen durch angelegte Singschulen zu guten Sängern zu bilden. Durch die Reformation wurde dem Volke der Kirchengesang wiedergegeben, s.u. Choral u. Gesangbuch. Im Gegensatz mit der Kirchenmusik führte die Oper (s.d.), die zuerst in Italien u. Frankreich aufkam, einen leichteren Styl im G. ein, der sich im 17. u. 18. Jahrh., gleichzeitig mit der übrigen Musik, ausbildete. In neuester Zeit hat das Lied, sowohl ein- als mehrstimmig, die meiste Ausbildung erhalten, u. die Liedertafeln u. Singvereine in Deutschland leisten hierin Gutes. Die geistliche Musik wird durch die in neuerer Zeit entstandenen Singakademien immer mehr ausgebildet. Anweisungen zum G. geben: Hiller, Anweisung zum zierlichen G., Lpz. 1774; Tosi, Anleitung zur Singekunst, Berl. 1757; Nägeli u. Pfeifer, Gesangbildungslehre, Lpz. 1810; Natorp, Anleitung zur Unterweisung im Singen, erster Cursus 5. Aufl. Essen 1837, zweiter Cursus 2. Aufl. 1834; Gläser, Anweisung zum Singen, Essen 1821; Marx, Die Kunst des Gesanges, Berl. 1826; Schärtlich, Gesangschule, Potsdam 1832; Gersbach, Singschule, Karlsr. 1833; Sieber, Lehrbuch der Gesangkunst, Magdeb. 1856. 2) So v.w. Hauptmelodie eines Tonstückes; 3) so v.w. sangbare Melodie, auch wenn nur von Instrumentalmusik die Rede ist, vgl. Cantabel; 4) ein zum Singen bestimmtes Gedicht, wie Lied, Ode, Hymne etc.; 5) ein zu denjenigen Dichtungsarten gehöriges Gedicht, welche in alten Zeiten gesungen wurden, z.B. ein Heldengedicht; 6) Abtheilung eines Epos (s.d.); 7) G der Arterien, s.u. Auscultation.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.