Gnade

Gnade

Gnade, 1) Zuneigung; 2) wohlwollende Gesinnung Höherer gegen Niedrige, worauf diese keinen Anspruch zu machen haben; 3) die Bethätigung dieser Gesinnung, besonders von Seiten des Fürsten (od. in Republiken der höchsten Staatsgewalten), welche gesetzlich bestimmte Strafen mildert od. erläßt (G. für Recht ergehen läßt); vgl. Begnadigung; 4) (G. Gottes, Gratia, gr. Charis), die Liebe Gottes zu den Menschen, sofern er ihnen alle Wohlthaten unverdient erzeigt od. sofern er ihnen ihre Sünden vergibt. Daher Gnadenzeit der Zeitraum, in welche in der Sünder noch G. bei Gott finden u. Vergebung seiner Fehltritte erhalten kann. Die G. begreift nach der Bibel das ganze Leben auf Erden, endigt aber mit dem Tode (vgl. dagegen Böse u. Terministischer Streit). Ferner die Wohlthaten (Gnadenwohlthaten) selbst, die Gott den Menschen zufließen läßt, od. auch eine einzelne solche göttliche Wohlthat, die ein Mensch empfangen hat; daher namentlich in den Briefen des Paulus, bald die Sendung Jesu im Allgemeinen, bald das von Jesu gestiftete Christenthum, bald das den Aposteln anvertraute Amt; auch die Belohnung unserer Frömmigkeit u. Tugend, so fern sie Gott uns nicht um unserer Verdienste willen, sondern aus bloßer Barmherzigkeit zu Theil werden läßt (Gnadenlohn); endlich der Beistand, welchen Gott dem Menschen durch den Heiligen Geist bei seinem Besserungsgeschäfte zu Theil werden läßt, od. der Inbegriff alles dessen, was Gott gethan hat u. noch thut, um die Menschen zur Tugend u. Seligkeit hinzuleiten u. was in der Dogmatik die Gnade Gottes in Christo genannt wird. Von der Kirchenlehre wird hier unterschieden: a) Gnadenwahl (Praedestinatio), der Act des göttlichen Willens, durch welchen er die, welche durch Christum standhaft glauben u. tugendhaft leben würden, zur Seligkeit bestimmte, im Gegensatz der Verwerfung (s.d.). Da man von der einfachen Bibellehre, daß Gott von Ewigkeit die Frommen zur Seligkeit, die Bösen zur Verdammniß bestimmte, weil er beide nach ihrer Sittlichkeit im Voraus kannte (Praescientia) abging u. auf Grund einiger Stellen der Schrift, namentlich Röm. 8 u. 9, den Rathschluß Gottes so darstellte, daß er Einige zur Seligkeit bestimmt u. die Andern ewig verworfen habe, so entstand dadurch mehrfacher Streit in der Kirche. Schon in der älteren Zeit lehrte Augustinus gegen Pelagius (s.b.), daß die göttliche Gnade in Christo nur denjenigen zu Theil werde, welche Gott von Ewigkeit her bestimmt habe (Praedestinati ad aeternam salutem), daß aber alle Andern ohne die göttliche G. blieben, weil sie von Ewigkeit her verworfen wären (Praedestinati ad mortem aeternam). Hiernach würde nicht ein bedingter Rathschluß Gottes (Decretum conditionatum), sondern ein unbedingter (Decretum absolutum) festgestellt. Diese strenge Lehre von der Gnadenwahl wurde später von dem Mönche Gottschalk gegen Hrabanus Maurus (s.d.), von Beda Venerabilis. Alcuin u. And., in der scholastischen Zeit von Petrus Lombardus, Thomas von Aquino u. der Schule der Thomisten (s.d.) gegen die Scotisten (s.d.), später, auch von Wicklef (s.d.), in der Katholischen Kirche, welche sich auf dem Concilium von Trident dagegen erklärte, von den Dominicanern gegen die Franciscaner u. Jesuiten u. von den Jansenisten gegen die Molinisten (s.d. a.), in der Reformirten Kirche von Calvin u. Beza, später von der Dordrechter Synode gegen die Arminianer (s.d.) u. in der Lutherischen Kirche von Luther selbst Anfangs gegen Erasmus (s.d.) u. die Katholische Kirche, später gegen die mildere Richtung Melanchthons vertreten, in der Concordienformel aber gegen die Calvinische Lehre die absolute Gnadenwahl verworfen u. die allgemeine u. bedingte angenommen, obschon unter Widerspruch der strengen Lutheraner. Unter den neueren Theologen suchte Schleiermacher die calvinische Lehre zu vertheidigen, jedoch ohne besonderen Erfolg. Die Frage über die Gnadenwahl u. Seligkeit der Nichtchristen, welche bes. durch Matth. 13, 41, Marc. 16, 16 u. and. Stellen der Bibel veranlaßt wurde, beantworteten Luther u. die Calvinisten im streng Augustinischen Sinn, Melanchthon aber milder, während neuerlich die Lehre von der Verdammniß der Heiden u. selbst der noch nicht getauften Christen unter den orthodoxen Theologen ihre Vertreter gefunden hat. b) Gnadenwirkungen (Operationes gratiae), die heilsamen Wirkungen, welche der Heilige Geist durch die Bekehrung im Menschen hervorbringt. Diese Wirksamkeit ist aa) eine unerklärliche, übernatürliche (Operatio supernaturalls, O. mirifica), aber diese besteht nicht in einer plötzlichen, gewaltsamen Umschaffung, sondern in einer allmäligen, nach einer gewissen Ordnung erfolgenden (s. c); bb) der Mensch kann derselben widerstehen (daher Gratia resistibilis). Doch unterscheidet man zwischen einem ersten u. einem zweiten Act der Gnadenwirkungen; in dem ersten (Actus primus) sei sie unwiderstehlich (G. irresistibilis), weil der Mensch dieselbe nicht hindern könne; in dem zweiten (Actus secundus) aber könne er derselben widerstehen, wenn er durch sein freies Verhalten auf dieselben nicht achte od. sie gar unterdrücke durch Unterlassung des weiteren Nachdenkens, durch Häufung schwerer Sünden, durch Zerstreuung etc. c) Gnadenordnung (Ordo salutis), die von Gott vorgeschriebene Art u. Weise, wodurch der Mensch des durch Christum dargebotenen Heils theilhaftig wird. Sie wird in fünf Grade eingetheilt; aa) die [428] Berufung (Gnadenruf, Vocatio), d.h. die Wirksamkeit Gottes, wodurch er den Menschen durch den Heiligen Geist zur Theilnahme an dem Reich Gottes einladet u. auffordert; bb) Erleuchtung (Illuminatio), d.h. die Wirksamkeit Gottes, wodurch er den Menschen Gelegenheit u. Antrieb gibt, zur Erkenntniß der wahren Religion (des Christenthums) zu kommen; cc) die Besserung (Conversio od. Poenitentia), d.h. die Umänderung der Gesinnung, in welcher der Mensch über die begangenen Sünden Reue (Contritio) empfindet u. durch den Glauben an Jesu Verdienst (Fides salvifica, s.u. Glaube) Vergebung hofft u. erwartet. Erleuchtung u. Besserung zusammen heißen die nun zum Heil mitwirkenden Gnadenkräfte; dd) die Heiligung (Sanctificatio, Renovatio), d.h. das aus der Besserung hervorgehende Bestreben des Menschen, der Tugend treu zu bleiben; ee) die Gemeinschaft mit Gott (Unio cum Deo mystica), wo der gebesserte Christ mit Gott in einer so innigen Verbindung steht, daß er durch seine G. in einem ganz besonderen Grade auf ihn wirkt u. für sein Heil sorgt. Der Zustand des Christen, worin er durch Buße u. Glauben die G. Gottes u. Vergebung seiner Sünden erhält u. in Gemeinschaft mit Gott steht, heißt der Gnadenstand, vgl. Gnadenreich 2). d) Gnadenmittel (Heilsmittel, Adminienia s. Media gratiae, Media salutis), die Mittel, deren Gott u. der Heilige Geist sich bedient, um den Menschen zur Tugend u. Seligkeit zu leiten. Sie sind theils aa) allgemeine, theils bb) besondere, nur im Christenthum gebotene, u. diese aaa) G. im weitern Sinne, M. g. exhibitiva, das göttliche Wort (Bibel) u. die Sacramente; M. g. exsecutiva s. in regnum divinum introducentia, der Tod, die Auferstehung, das Gericht u. das Ende der Welt; das Medium apprehendens ist der Glaube; bbb) im engern Sinne nur die Exhibitiva. e) Daß der Mensch dieser G., abgesehen von dieser Ordnung u. den übrigen kirchlichen Bestimmungen, bedürfe, sie gewiß empfange, wenn er sie benutzen will, aber auch wieder verlieren könne, wenn sie ihm schon zu Theil geworden ist, ist Lehre der Bibel u. war es in der Kirche bis zu dem Auftreten des Pelagius u. seinen Kämpfen mit Augustinus im 5. Jahrh., obschon die griechischen Kirchenväter stets mehr die Mitwirkung des Menschen bei der Ergreifung der Gnade, die lateinischen aber die göttliche Gnade selbst in den Vordergrund gestellt halten. Die damals entstandenen Streitigkeiten über die Kraft des Menschen zum Guten, welche Pelagius, u. über die gänzliche Unfähigkeit zum Guten, welche Augustinus vertheidigte, u. wobei die Semipelagianer (s.d.) durch Concessionen nach beiden Seiten zu vermitteln suchten, haben sich in meist sehr scharfen Gegensätzen durch die ganze Christliche Kirche hindurch gezogen u. zwar in derselben Richtung wie bei der Lehre von der Gnadenwahl (s. ob. a). Unter den neueren Theologen erklärten die Rationalisten (Semler, Wegscheider, Ammon, Röhr), im Gegensatz zur Kirchenlehre die Gnadenwirkungen für natürliche u. mittelbare Wohlthaten der göttlichen Vorsehung, die Supernaturalisten (Storr, Seiler, Tittmann) als unmittelbare Einwirkungen Gottes, wobei indeß Einige (Morus, Reinhard, Hahn, Bretschneider, Nitsch, Steudel) die freie Kraft der Menschen Antheil nehmen ließen; die philosophischen Dogmatiker (Schleiermacher u. Marheinicke) als Erzeugnisse der göttlichen, nach ihren Philosophemen dargestellten Gnade, die Anthropologen nach Kantischen Grundsätzen (Krug u. Böhme) als Erzeugnisse der menschlichen Freiheit, während Hase u. De Wette die göttliche u. menschliche Thätigkeit zu verschmelzen suchten. Vgl. Junkheim, Von dem Übernatürlichen in den Gnadenwirkungen, Erlangen 1775; Eusebius' Briefe über die Wirkungen der G., Halle 1777; Krummacher, Das Dogma von der Gnadenwahl, Duisburg 1856.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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