- Pocken
Pocken, 1) (Menschenpocken, Variolae), eine den Griechen u. Römern, wenigstens in ihrer jetzigen Gestalt, unbekannte ansteckende Hautkrankheit, welche seit ihrer Entstehung mehr als kaum eine andere Verheerungen unter allen Völkern angerichtet hat. Lange vor der christlichen Zeitrechnung in China u. einigen anderen Ländern des östlichen Asiens verbreitet, zeigten sie sich erst seit 572 n.Chr. als Epidemie in Arabien. Aaron war der erste arabische Arzt, welcher sie 622 als eine allgemein bekannte Krankheit beschrieb, aber nur die Beschreibung der Krankheit von Rhazes ist aus dem 9. Jahrh. auf uns gekommen. Von ihrem Vorkommen im 6. u. 7. Jahrh. v. Chr. in Europa liefert die Geschichte unsichere Thatsachen, doch scheinen sie schon im 8. durch die Sarazenen nach Spanien gelangt zu sein. Gemeiner wurden sie erst seit dem 11. Jahrh. durch die Kreuzzüge. Von Europa erhielt sie Amerika bereits 1492. In Schweden ist die älteste Nachricht von ihnen vom Jahr 1578; überhaupt blieben die nordischen Gegenden noch lange verschont. 1718 brachten sie die Holländer nach dem Cap, 1783 die Dänen nach Grönland; 1768 u. 1769 wurden sie nach Kamtschatka gebracht. Doch haben sich auch einzelne Länder, so einige Theile der Tatarei, frei von ihnen erhalten. Seit Einführung der Kuhpockenimpfung (s.d.) hat sich die Ausbreitung der Krankheit beschränkt u. ist in einer milderen Form (Varioloiden, s.d.) aufgetreten. Sie gänzlich auszurotten, hat nicht gelingen wollen, im Gegentheil scheint die Krankheit in neuester Zeit einen erneuerten Anlauf nehmen zu wollen u. die Schutzkraft der Impfung, welche in ihrer Wirksamkeit überhaupt angezweifelt worden ist, nicht immer u. nicht auf Lebenszeit zuverlässig zu sein, daher die Revaccination eingeführt wurde. Die Menschenpocke od. Menschenblatter ist eine fieberhafte Hautausschlagskrankheit, welche mit mäßigem Fieber, mit gastrischen Zufällen, ziehenden Schmerzen im Körper, wohl auch mit Nervenzufällen (Zuckungen, Aufschrecken im Schlafe, Bilderjagd, Irrereden, großer Mattigkeit) u. mit einem dem modernden Brode ähnlichen Geruche des Athems u. der Hautausdünstung, allmälig sich steigernd, eintritt. Endlich bricht der Ausschlag unter Augenschmerzen, Thränen der Augen, Hautbeschwerden u. Hautbrennen durch u. zwar regelmäßig von oben nach unten, zuerst im Gesicht u. am Kopfe, dann an der Brust u. den oberen, dann am Bauche u. den unteren Gliedmaßen. Die P. treten in einzelnen Stippen auf, welche bald zu Knötchen u. dann zu eigenthümlichen Pusteln werden. In drei Tagen ist der Ausbruch zumeist vollendet, das Fieber hört auf, am sechsten Tage bilden sich Eiterpusteln, u. häufig tritt mit diesem Zeitraum ein gefährlicheres, auf Eiteraufsaugung beruhendes u. mit größerer Anschwellung der befallenen Theile verbundenes Fieber ein. Mit dem zehnten Tage werden die Pusteln dunkler, platzen u. ergießen ihren Inhalt od. trocknen u. bilden in beiden Fällen derbe, dunkle Schorfe, unter denen die Lederhaut theilweise angefressen ist. Unter riechenden Schweißen mildert sich das Fieber. Endlich fallen die Schorfe ab u. hinterlassen bläulichrothe Flecken u. charakteristische Narben (Pockennarben). Die Form der Pocke selbst ist folgende: zuerst zeigt sich eine hellrothe runde Stippe mit einem dunkler gefärbten Punkt in der Mitte; in der Tiefe fühlt man eine verborgene hirsekornartige Härte. Nach 24 Stunden umgibt sich das Knötchen mit einem rothen Hofe, wird zum mit Lymphe gefüllten Bläschen, anfangs eine nabelförmig eingedrückte Delle (Nabel) auf seiner Höhe zeigend. Endlich erhebt sich das Bläschen mehr u. mehr, ihr Inhalt trübt sich u. wird zur Pockenpustel. Letztere ist von fächerigem Bau, daher beim Anstechen nicht völlig ausfließend, u. besteht in Entzündung einer[226] Hautbalgdrüse, deren Ausführungsgang anfangs noch an der Oberhaut festhaltend, die Delle der Pustel bildet, bis durch die schmelzende Eiterung gelöst, auch die Mitte der Pustel sich hebt. Die Pockenpustet hinterläßt eine rundliche Kruste (Pockenkruste), u. nach deren Abfallen bleibt eine weiche angefressene Stelle der Lederhaut, welche zu einer zackig geränderten Narbe (Pockennarbe) verheilt. Zuweilen treten Unterschiede in der Form des Exanthems auf, indem die einzeln stehenden P. (Variolae discretae) sich sehr dicht an einander drängen u. verschmelzen, zusammenfließende P. (V. confluentes), od. einen bläulich schwarzen, von zersetztem Blute herrührenden Inhalt (Schwarze P.) zeigen. Je nach diesen mehr od. weniger gefährlichen Erscheinungen unterscheidet man gutartige (V. benignae) u. bösartige P. (V. malignae). Die Anlage zu den P. scheint wohl allgemein im Menschengeschlechte verbreitet u. wird durch wirklichen Ausbruch der echten Menschenpocke am besten getilgt, gemildert durch die Impfung. In der Regel befällt diese Krankheit den Menschen nur einmal im Leben, zuweilen scheint sie von selbst, ohne Ansteckung den Menschen zu befallen, gewöhnlich aber u. am sichersten wird der Ausbruch der P. durch einen Ansteckungsstoff (Pockencontagium) bedingt, welcher theils fixer, theils flüchtiger Natur ist, indem es nicht nur in der reisen Lymphe, dem Pockeneiter u. den Schorfen, sondern auch durch die Ausdünstung u. Ausathmung des Kranken verbreitet zu werden scheint. Die Behandlung der P. bedarf bei regelmäßigem Verlaufe u. gutartiger Form blos einer gehörigen Diät u. Abhaltung von Schädlichkeiten. Die Pockendiät ist dieselbe, wie bei den gelinden Graden eines entzündlichen Fiebers, reine Luft, mehr kühles, als warmes Verhalten, Vermeidung von Zugluft, säuerliches Getränk u. Pflanzenkost, Leibesöffnung ist durch Klystiere zu erhalten. Bei höheren Graden des Entzündungsfiebers kommen die antiphlogistischen Mittel jedoch nur mäßig in Anwendung. Übermäßige Schweißbeförderung ist zu meiden, außer wenn in Folge einer Erkältung der schon im Ausbrechen begriffene Ausschlag in seiner Weiterentwickelung zu stocken beginnt. Die Nachkrankheiten der P. fordern Herstellung der Functionen der Schleimhäute u. der Haut. 2) Falsche P. (Varicellen), welche den echten mehr od. weniger ähnlich, häufig vor od. während Pockenepidemien ebenfalls Individuen befallen, nicht selten mit den echten P. verwechselt werden, sich aber bes. dadurch unterscheiden, daß sie von weit kürzerem Verlauf u. mit keinen od. unerheblichen Fieberbewegungen begleitet, übrigens gefahrlos sind u. auch keiner Heilmittel bedürfen. Man unterscheidet der Form nach: a) Wasser-, (Wind-Krystall-) P. (Variolae crystallinae, V. lymphaticae), enthalten eine weiße, durchsichtige Feuchtigkeit, welche nur in seltenem Falle eiterartig wird; die Pusteln sind von verschiedener Größe u. haben in der Mitte eine kleine Vertiefung; b) Spitz – (Stein-, Warzen-) P. (V. acuminatae, V. verrucosae), bilden blos eine spitzige Erhöhung ohne Vertiefung, füllen sich mit Lymphe, bleiben bis zum Abfallen hart u. gleichsam warzig; c) Schweins-P. (V. ovales), von meist länglicher, aber auch runder Form; werden weit größer als echte P., haben an ihrer Basis zuweilen einen rothen Ring, gehen in wahre Eiterung über, verwandeln sich selbst wohl in große, lange, eiternde, um sich fressende Geschwüre u. hinterlassen Narben; 3) überhaupt pockenähnliche Hautausschläge, bes. syphilitischer Art; 4) auch dergleichen bei Thieren, s. Schafpocken, Kuhpocken.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.