Reichskammergericht

Reichskammergericht

Reichskammergericht, neben dem Reichshofrath (s.d.) das höchste Gericht des ehemaligen Deutschen Reiches. Das R. wurde vom Kaiser Maximilian I. zur Erhaltung des allgemeinen Landfriedens 1495 angeordnet, u. war Anfangs in Frankfurt eingesetzt, kam aber schon 1497 nach [952] Worms, 1501 nach Nürnberg, 1502 nach Augsburg, 1503 nach Regensburg, 1509 wieder nach Worms, 1513 nach Speier, 1514 nochmals nach Worms, 1521 wieder nach Nürnberg, 1524 nach Eßlingen, 1527 nochmals nach Speier, 1539 u. 1540 nach Wimpfen, 1555 u. 56 nach Eßlingen, blieb aber die übrige Zeit in Speier, bis dieses 1688 von den Franzosen eingenommen u. 1689 verbrannt wurde, wobei ein Theil des Archivs in Flammen aufging, worauf es, nachdem es von Frankfurt, Augsburg u. einigen andern Reichsstädten verbeten war, seinen Sitz in Wetzlar nahm u. hier seine Sitzungen 1693 eröffnete. Das R. bestand a) aus dem vom Kaiser ernannten Kammerrichter, welcher die Direction u. Aufsicht des R-s, sowie die Austheilung der Acten besorgte; ermußte Reichsfürst (geistlicherod. weltlicher), od. mindestens Reichsgraf od. Freiherr sein, hatte aber keine Stimme bei dem Gericht selbst; b) aus den Kammerpräsidenten, deren eigentlich vier, Grafen od. Freiherren, sein sollten; doch waren stets nur zwei, ein katholischer u. ein protestantischer, welche vom Kaiser ernannt wurden, den Kammerrichter nöthigenfalls vertraten u. von demselben in allen wichtigen Fällen zu Rathe gezogen werden mußten; c) aus den Reichskammergerichtsassessoren, welche vom Herrenstande od. Rechtsgelehrte ehelicher Geburt sein sollten; ihre Zahl war im Westfälischen Frieden auf 50 bestimmt, da aber immer der nöthige Fond fehlte, so war diese Zahl nie voll, ja ein Reichsbeschluß von 1719 setzte ihre Zahl einstweilen auf 25 u., da man auch diese nicht besolden konnte, ein anderer auf 17, wovon 9 katholisch, 8 evangelisch waren. Die Assessoren wurden vom Kaiser, den Kurfürsten u. Kreisen nach einem gewissen Verhältnisse präsentirt, dann von der Kammer noch bes. geprüft u. angenommen od. verworfen. Außerdem war d) ein zahlreiches Kanzleipersonal bestellt, welches der Kurfürst von Mainz anzustellen hatte. Dieses theilte sich in die Reichskammergerichtskanzlei, zu welcher Reichskammergerichtsprotonotarien u. Reichskammergerichtsnotarien, u. in die Reichskammergerichtsleserei (Archiv), zu welcher die Reichskammergerichtsleser gehörten. Die Kammerboten u. Pedelle wurden von der Kammer angenommen. e) 30 Reichskammergerichtsprocuratoren trugen die Anliegen der Parteien mündlich vor u. übergaben ihre Schriften; eine unbestimmte Zahl Reichskammergerichtsadvocaten dienten den Parteien. Außerdem wurde ein Fiscalprocurator u. Fiscalanwalt vom Kaiser präsentirt. Das R. wurde von gewissen Abgaben der Reichsstände, Kammerziele, unterhalten, welche von denselben zur Frankfurter Oster- u. Herbstmesse dem Reichskammergerichtspfennigmeister eingeschickt werden sollten, aber sehr unordentlich eingingen. Das Verzeichniß hiervon u. des Personals hieß Kammermatrikel. 1768 kostete das R. etwa 70,000 Thlr. Die Kammergerichtsboten erhielten für die Insinuationen der ausgewirkten Processe von der unterliegenden Partei eigene Concordiengelder, für die Behändigung u. Zufertigung der Acten erhielten sie den Kammergulden, 20 Batzen od. 80 Kreuzer. Die Geschäfte wurden in Senaten erledigt, bei deren Bildung auf gleiche Zahl der katholischen u. protestantischen Assessoren Rücksicht genommen wurde. Eine schon von Friedrich II. entworfene, von Maximilian I. 1495 bekannt gemachte, im Jahre 1555 revidirte, 1814 verbesserte Reichskammergerichtsordnung schrieb den Geschäftsgang noch näher vor. Die Competenz war in der Weise geregelt, daß das R. zunächst die ausschließliche Instanz in Sachen des Reichskammergerichtspersonals u. in Fiscalsachen, welche das Gericht selbst betrafen, bildete. Ferner konnten Klagsachen gegen Reichsunmittelbare, wenn nicht das Recht der Austräge (s.d.) in Betracht kam, sofort in erster Instanz, sonst in zweiter Instanz bei ihm angebracht werden. In Civilprocessen gegen mittelbare, landsässige Personen bildete dagegen das Gericht in der Regel nur die dritte u. letzte Instanz, ausgenommen für die Länder, welche vermöge eines sogenannten Privilegium de non appellando (s.d.) von jeder Gerichtsbarkeit des R-s eximirt waren. Außerdem nahm das R. Beschwerden wegen verzögerter od. verweigerter Rechtspflege aus allen, selbst den eximirten Ländern an u. hatte die sogenannte freiwillige Gerichtsbarkeit über Reichsunmittelbare. Ganz ausgeschlossen war die Competenz des Gerichtes namentlich in allen Regierungs- u. geistlichen Sachen, sowie in peinlichen Sachen der Mittelbaren. Wichtig war bes. das Recht, über zweifelhafte processualische Fragen selbst Beschlüsse zu fassen u. dieselben als interimistisch, d.h. bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes, verbindliche Normen publiciren zu dürfen Gemeine Bescheide). Jährlich sollte eine Reichskammergerichtsvisitation Statt finden, allein seit 1582 wurde dieselbe bei Seite gesetzt u. seit 1600 fast ganz vergessen. Die Folge hiervon u. von der Anstellung zu weniger Räthe war das Stocken fast aller Processe vor dem R. Zwar wurde 1706 eine außerordentliche Visitationsdeputation durch Joseph I. beschlossen u. erbrachte 1713 auch wirklich einen Abschied zum Vorschein; indessen den alten Gang konnte sie nicht in Bewegung setzen. Unter Joseph II. trat 1761 die erste, 1774 die zweite, 1775 die dritte Klasse der dazu deputirten Stände das Visitationsgeschäft an, dasselbe gerieth aber bald wieder ins Stocken. Der Bescheidtisch, ein Tisch in der Sitzungsstube, worauf alle Acten gelegt wurden, welche augenblicklich entschieden werden sollten, war daher eine Satyre auf das R. Mit dem Deutschen Reiche endete 1806 auch das R. Über das Archiv des R-s s. u. Reichsarchiv.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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