Senĕca [1]

Senĕca [1]

Senĕca, 1) Marcus Annäus S., der Rhetor, stammte aus einem ritterlichen Geschlechte von Corduba in Spanien, geb. 56 (55) v. Chr., lebte seit 40 in Rom, wo er die Freundschaft des Poreius Latro genoß u. die berühmtesten Rhetoren hörte; er ging dann nach Spanien zurück u.st. 34 n.Chr. Sein Gedächtniß war so stark, daß er 2000 nur einmal gehörte Namen u. 200 Verse, welche ihm auch nur einmal vorgesagt waren, in derselben Ordnung wiederholen konnte. Er schr. Controversiae (Auszüge aus Reden, welche er von seinen Lehrern gehört od. gelesen hatte; erhalten das 1., 2., 7., 9. u. 10. Buch) u. Suasoria (Empfehlungsreden); herausgeg. von Gronov, Leyden 1649, 4 Bde., Amsterd. 1672, 3 Bde.; von Bursian, Lpz. 1857; die Controversiae allein zuerst, Vened. 1490, Fol. 2) Lucius Annäus S., der Philosoph, Sohn des Vor. u. der Helvia, geb. um 2 n.Chr. in Corduba; als Kind kam er nach Rom u. hörte den Pythagoreer Sotion, den Stoiker Attalos u. den Kyniker Diogenes, seinen vertrauten Freund. Er wurde Quästor, aber im Jahre 42 auf Veranlassung der Messalina nach Corsica exilirt; 50 auf Verwendung der zweiten Gemahlin des Claudius, Agrippina, zurückgerufen, zum Prätor (58 auch zum Consul) gewählt u. zum Hofmeister des jungen Nero bestellt. Er führte den Nero von seinem lasterhaften Leben auf einige Zeit zurück u. erwarb sich seine Gunst. Weil ihn Nero reich beschenkte, haßten ihn die anderen Hofleute; er verlor aber seit 63 allen Einfluß auf den Kaiser u. zog sich in die Einsamkeit zurück. Von der Kaiserin Poppäa dem Nero als Theilnehmer an der Verschwörung des Piso verdächtigt, wurde er 65 zum Tode verurtheilt. Er wählte die Eröffnung der Adern im Bade, trank Gift, als die Verblutung zu langsam ging, u. ließ sich zuletzt durch Dampf ersticken. Seine Gemahlin Paulina wollte mit ihm sterben, wurde aber auf Befehl des Nero noch gerettet. S. ist als Mensch u. Schriftsteller auf das Verschiedenste beurtheilt worden u. zwar schon von seinen eigenen Landsleuten; Einigen galt er als der Weiseste u. Tugendhafteste, Andern als ein bloßer Tugendredner, der übrigens der Habsucht gefröhnt, durch Schmeichelei nach der Gunst der Großen gehascht u. den Nero durch seine Erziehung u. Grundsätze verdorben habe; seine Gegner hielten seine Schriften gar nicht für lesenswerth, da seine Gedanken fade u. inhaltsleer, seine Sprache witzelnd, gemein u. abgedroschen wäre; Andere dagegen sprachen ihm wohl Eleganz des Styles ab, gestanden ihm jedoch Kenntnisse u. sittlichen Ernst in der Rüge der Laster zu. In der That zeigt sich S. als ein Mann von ausgezeichnetem Talent, aber ohne Charakter, der in seinem Leben immer zwischen dem Weisen u. dem Höflinge, in seinen Schriften zwischen dem Philosophen u. Rhetor schwankt. Ohne Zweifel ist er der geistreichste u. originellste Schriftsteller der Römer; für ihn hatte die Philosophie nicht Werth als System od. Speculation, sondern sie sollte praktisch ins Leben eingeführt werden u. das in das Weltwesen ganz versunkene Leben erheben u. bessern. Daher folgt er nicht einer besonderen philosophischen Schule, sondern ist Eklektiker; vorzugsweise Stoiker, suchte er doch die Herbe des Stoicismus durch Beimischung aus dem Epicureismus zu mildern u. aus dem Pythagoreismus zu veredeln; das nationale Römerthum trat ihm hinter das reine Menschenthum zurück, daher man etwas dem Christenthum verwandtes, sogar Christliches in seinen philosophischen u. religiösen Ideen u. Sentenzen finden wollte u. die Sage geht, daß er sogar ein Freund des Apostels Paulus u. selbst Christ gewesen sei u. (wie Hieronymus zuerst erwähnt u. seit dem 12. Jahrh. wieder vielfach geglaubt wurde) Briefe mit Paulus gewechselt habe, wie ihn denn Hieronymus in den Catalogus Sanctorum aufnahm, daher er auch im Mittelalter, während die andern classischen Schriftsteller in Vergessenheit kamen, in hohem Ansehen blieb u. sein physikalisches Werk eine Hauptquelle der naturwissenschaftlichen Kenntnisse war, seine moralischen Schriften zur Belehrung u. Erbauung viel gelesen wurden; in neuerer Zeit wurde er bes. von den Franzosen verehrt. Seine erhaltenen Schriften sind: Consolatio ad Helviam matrem, Cons. ad Marciam (herausgegeben von Michaelis, Harl. 1840, deutsch mit der an Helvia von Conz, Tüb. 1792); Cons. ad Polybium (deutsch von Olshausen, Alt. 1806); De clementia, an Nero, eine Art Fürstenspiegel (deutsch u.a. von Hildebrand, Lpz. 1794; von Rußwurm, Stendal 1809; von Albani, Dessau 1851 ); De ira (deutsch von Weiß, Dresd. 1733, von Hildebrand, Lpz. 1794); De beneficiis (deutsch von I. A, [839] Schmidt, Lpz. 1797); De providentia (herausgegeben von Acker, Rudolst. 1711, von Nauta, Leyd. 1828; deutsch von Thormeyer, Halle 1790); De animi tranquillitate (herausgegeben von P. Müller, Jena 1671; deutsch Berl. 1768); De constantia sapientis (deutsch von Conz, mit der Schrift über die Vorsehung, von Conz, Stuttg. 1790, von Schücking, Münst. 1836); De brevitate vitae (deutsch von Heinze, Hann. 1747, n.A. 1754; von Fr. Franke, Berl. 1797); De vita beata (deutsch Danz. 1742, n.A. 1750; von Conz, Stuttg. 1791); Quaestiones naturales (herausgegeben von Köler, Gött. 1818; deutsch von I. H. A. Schulze, Gött. 1786; von Ruhkopf, Lpz. 1794, 1. Thl.); Epistolae ad Lucilium (Mittheilungen über philosophische u. literarische Gegenstände, herausgegeben von F. Chr. Matthiä, Frankf. 1808, von Schweighäuser, Strasb. 1809, 2 Bde, Auswahl von Pauly, Stuttg. 1825; übersetzt von Palthen, Rost. 1765 f. 2 Bde.; von Olshausen, Kiel 1811, 2 Bde., von Walter, Dresd. 1839 f., eine Auswahl von Kayser, Dessau 1783, Regensb. 1788); Apocolocyntosis (d.i. die Versetzung unter die Kürbisse) od. Ludus de morte Claudii (eine Spottschrift auf den verstorbenen Kaiser Claudius, dessen Versetzung nach dem Tode unter die Kürbisse statt unter die Götter [Apotheose], herausgegeben von Corte, Lpz. 1720; deutsch von Neubur, ebd. 1729, von Gröninger, Münst. 1798); der angebliche Briefwechsel des S. mit dem Apostel Paulus besteht aus 6 Briefen von Paulus u. 8 von S.u. die Briefe finden sich z.B. in der Venetianischen, Baseler u. Haaseschen Ausgabe der Werke S-s, in den Epistolae apocryphae des N. T.; bes. herausgegeben von Fickert, Bresl. 1853, Sämmtliche Werke herausgeg. Neapel 1475, 2 Bde., von Muret, Rom 1485, Vened. 1491; von Erasmus, Bas. 1529, von Lipsius, Antw. 1605, von Gronov, Leyd. 1649, von Olearius, Lpz. 1702, 1741, n.A. 1770, 2 Bde, von Ruhkopf, Lpz. 1707–1811, 5 Bde., von Vogel, ebd. 1829, von Fickert, Lpz. 1842–45, 3 Bde., von Fr. Haase, ebd. 1852 f., 3 Bde.; deutsch von Moser u. Pauly, Stuttg. 1828–1855, 17 Bde.; über S. vgl. Leben des Seneca, nach Diderot übersetzt von Hanker, Dessau 1783, n.A. Lpz. 1794; Klotzsch, Luc. Ann. Seneca, Wittenb. u. Zerbst 1799–1802, 2 Bde.; Reinhardt, De Senecae vita atque scriptis, Jena 1816; Werner, De Senecae philosophia, Bresl. 1825; Doergens, Senecae disciplina mor. cum Antoniniana contentio, Lpz. 1857; über die angebliche Christianität u. das Verhältniß des S. zum Apostel Paulus: I. A. Schmidt, De S. ejusque theologia, 1668; Siber, De S. divinis oraculis consono, 1675; Hartschmidt, De Senecae notitia dei naturali, 1686; Svaming, Senecae theologia naturalis, 1710; Der christliche S., Lpz. 1712; Gelpke, De familiaritate quae Paulum et S. intercessisse traditur verisimillina, ebd. 1812; Am. Fleury, St. Paul et Sénèque, 1853, 2 Bde; C. Aubertin, Etudes crit. sur les rapports supposes entre Sénèque et St. Paul, Par. 1857; F. C. Baur, S.u. Paulus, in Hilgenfelds Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, 1858. 3) S. der Tragiker; es gibt eine Sammlung von 10 römischen Tragödien, den einzigen aus dem römischen Alterthum erhaltenen, welche Einige dem Vorigen beilegen, während schon die Alten den Verfasser dieser Tragödien von dem Philosophen unterscheiden, noch Andere sie verschiedenen Verfassern zuschreiben, welche aber zur Zeit des S. gelebt hätten. Sie scheinen gar nicht zur Aufführung, sondern blos zu declamatorischen Vorträgen bestimmt zu sein, es fehlt ihnen an dramatischer Kunst, Einheit u. Würde, dagegen enthalten sie viele weitläufige Schilderungen, häufige moralische Betrachtungen u. Sentenzen im Geiste des Stoicismus; ihre Sujets sind meist Tyrannen, welche in ihren Fehlern in den grellsten Farben dargestellt werden; sie sind den Griechen, bes. dem Euripides, nachgeahmt u. enthalten auch Chöre. Die neuere tragische Bühne nahm diese Tragödien, ungeachtet ihrer Schwachheit, zum Muster; die sogenannte Klassische Tragödie der Franzosen knüpfte an sie an, u. die Spanier, die Italiener bis auf Alfieri, die Deutschen von Andr. Gryphius bis zu Lessing, die Engländer bis zu Shakespeare ahmten sie nach. Sie sind: Medea, Hippolytus, Oedipus, Troades (herausgegeben mit der Medea von A. Matthiä, Lpz. 1828, deutsch von Horn, Pen. 1803; von Gr. Müller, Rost. 1820, von Braun, Mainz 1824, von Swoboda, Wien 1830), Agamemnon, Hercules furens (herausgeg. von Tork. Baden, Kiel 1798), Thyestes (deutsch von Horn, Pen. 1802), Thebais od. Phoenissae, Hercules Oetaeus, Octavia (welche einen Stoff aus der Zeitgeschichte, das tragische Ende der Octavia, der Gemahlin des Nero, enthält). Herausgegeben sind sie Ferrara, 1481, von Gronov, Amst. 1682, von Schröder, Delft 1728, von Bothe, Lpz. 1819, 3 Bde., u. Halberst. 1822, Lpz. 1834; von Tork. Baden, Kopenh. u. Lpz. 1819–1821, 2 Bde.; deutsch übersetzt von I. W. Rose, Ansb. 1777–81, 3 Thle.; von K. Ad. Menzel, Berl. 1809 (unvollendet), von Swoboda, Wien 1821–25, 3 Bde.; von Ed. Sommer, Dresd. 1834.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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