Staatsrecht

Staatsrecht

Staatsrecht (Jus publicum), der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen, welche den Staat als solchen, seinen Organismus u. seine Verhältnisse nach innen u. außen zum Gegenstand haben. Insofern das S. hiernach es nur mit Rechtsnormen zu thun hat, unterscheidet sich dasselbe zunächst von der Politik (s.d.) als derjenigen Wissenschaft, welche den Staat nicht sowohl in seinem festen, normalen Dasein betrachtet, sondern vielmehr das staatliche Leben, die Gründe seiner Entwickelung u. die Wirkungen der dabei einflußreichen Factoren, so wie die daraus sich ergebenden Regeln über die beste praktische Leitung des S-s zum Gegenstande der wissenschaftlichen Untersuchung macht. Insofern weiter nur der Staat u. die mit ihm zusammenhängenden öffentlichen Rechtsverhältnisse das Object bilden, steht das S. im Gegensatz zum Privatrecht (s.d.) als dem Recht, welches nur in den Interessen der Individuen als Einzelnen wurzelt u. nur zu diesen Beziehung hat. Während bei den letzteren ebendeshalb die freie Verfügung der Einzelnen die Regel bildet, schließen die durch die Natur des Staates als organisches Gemeinwesen begründeten Rechtsverhältnisse in der Regel jede Privatwillkür aus. Von dem Völkerrecht ist das S. dadurch geschieden, daß jenes sich mit den Rechtsverhältnissen mehrer Staaten zu einander beschäftigt, während das S. den Staat nur als einen Organismus betrachtet u. die Existenz desselben als. einer politischen Persönlichkeit für sich u. vorzüglich nach den Beziehungen seiner inneren Glieder in das Auge faßt. Ebenso muß das Kirchenrecht, wenn schon die Römer bei der engen Verbindung ihrer Nationalreligion mit dem ganzen Staatswesen ihr Jus sacrum zu dem Jus publicum rechnen konnten, bei der Würdigung des Verhältnisses zwischen Staat u. Kirche (s.d.), wie sich dasselbe namentlich mit der Christlichen Religion als einer Weltreligion ausgebildet hat, von dem Gebiete des S-s als ein besonderer Rechtstheil getrennt werden Im Einzelnen pflegt das S. eingetheilt zu werden: A) nach seinen Quellen in das allgemeine, ideale, philosophische od. natürliche u. das positive od. besondere S., je nachdem die staatsrechtlichen Normen unmittelbar aus dem Begriffe u. Wesen des Staates od. aus den positiven Quellen geschöpft werden, welche sich bei den einzelnen Völkern historisch erzeugt haben. Im Grunde bildet das erstere indessen kein eigentliches Recht, sondern nur einen Theil der praktischen Philosophie; es kann daher auch als eine Quelle des wirklichen, praktischen S-s nur in einem sehr beschränkten Sinne betrachtet werden, in der Richtung nämlich nur, daß es theils die unentbehrliche rationelle Begründung gewisser staatsrechtlicher Fundamentalbegriffe liefert, theils die richtige Bildung von Analogien u. Folgerungen aus dem Begriff u. Zwecke des Staates, wie er bei einem bestimmten Wolke in das Bewußtsein getreten u.[639] zur äußeren Erscheinung geworden ist, unterstützt; B) nach dem Gegenstande, welchen es umfaßt, a) in das innere S. (J. publicum internum), welches die politischen Rechtsverhältnisse zum Gegenstande hat, welche innerhalb des Staatsgebietes in Frage kommen, u. das äußere S. (J. p. externum), welches sich auf die äußeren Verhältnisse des Staates bezieht. Von dem Völkerrecht (s.d.) bleibt das letztere noch dadurch unterschieden, daß dieses die allgemein gültigen Normen lehrt, welche über den Verkehr der Staaten unter einander überhaupt gelten, das äußere S. dagegen es nur mit den Rechtsgrundsätzen zu thun hat, welche ein einzelner Staat als diejenigen Normen aufstellt, welche er im Völkerverkehr als für sich verbindlich aufstellt; b) in allgemeines u. besonderes S., je nachdem die Normen bei einem zusammengesetzten Staatskörper sich auf die organische Gestaltung u. Verwaltung des Ganzen (Bundes-, Reichsstaatsrecht) od. auf die öffentlichen Verhältnisse der einzelnen Bestandtheile (Landes-, Territorial-, Provinzialstaatsrecht) beziehen; C) mit Rücksicht auf die Form u. Thätigkeit der Staatsgewalt in Verfassungs- u. Verwaltungsrecht, wovon das erstere dann die hinsichtlich der Beherrschungs- u. Regierungsform, das letztere aber die Normen begreift, welche sich auf die Ausübung der Staatsgewalt innerhalb der ihr durch die Verfassung gestellten Grenzen beziehen. Für Deutschland hat man außerdem noch nach der historischen Entwickelung der Quellen, auf denen das positive S. der deutschen Staaten beruht, D) ein gemeines u. ein particulares S. zu unterscheiden, je nachdem die bezüglichen Rechtsnormen aus für ganz Deutschland gültigen Quellen od. aus solchen Quellen zu schöpfen sind, welche nur für einen Einzelstaat Geltung haben. Auch das letztere S. ist aber in sehr vielen Beziehungen für die deutschen Staaten ein, wenn nicht gemeines, so doch gemeinsames Recht, indem die positiven Rechtsnormen der Einzelstaaten sich vielfach in gleichmäßiger Weise entwickelt haben.

Als Quellen des heutigen deutschen S-s können im Allgemeinen aufgeführt werden: Gesetze u. Verordnungen, soweit sie staatsrechtliche Verhältnisse berühren, Staatsverträge, Hausverträge u. Hausgesetze der regierenden Familien, das Gewohnheitsrecht u. die Observanz, letztere z.B. in Betreff der Familienrechte des Fürstlichen Hauses, so wie der Rechte der Ständeversammlungen, der Gerichtsgebrauch u. die Analogie. Als wichtige Hülfsmittel für das Studium des S-s gelten die übrigen Zweige der Rechtswissenschaft, bes. das Deutsche Privatrecht für einzelne demselben nahe verwandte Lehren (s. Privatfürstenrecht), ferner die historischen Wissenschaften, darunter namentlich die Geschichte der deutschen Staats- u. Rechtsverfassung, endlich die Politik, Statistik, Staatswirthschaftslehre (s.d. a.). Eine wissenschaftliche Behandlung des deutschen S-s beginnt erst mit den Rechtsbüchern des Mittelalters (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel, Kleines Kaiserrecht); doch sind die Notizen, welche in denselben über die Stellung u. Befugnisse des Kaisers zum Papst, über Reichstage, Standesverhältnisse etc. enthalten sind, noch sehr dürftig. Eine mehr wissenschaftliche Behandlung zeigen schon die mehrfachen Streitschriften, welche in Anlaß der unter Ludwig dem Baier über die Verleihung der Kaiserwürde ausgebrochenen Streitigkeiten über die unabhängige Stellung der kaiserlichen Gewalt von Marsilius von Padua (gest. 1328), Wilhelm von Occam (s.d.) u. Lupold von Bebenburg (gest. 1363) erschienen. Als erste theoretische Abhandlung des deutschen S-s werden gewöhnlich die Libri II de imperio Romano-Germanico des Peter von Andlaw (s.d. 2) angeführt, welche um 1460 erschienen. Das 16. Jahrh. behandelte in einzelnen Streitschriften u. Consultationen (z.B. von Gaill, Mynsinger) auch mehrfach Gegenstände staatsrechtlichen Inhalts, indeß wurden dabei meist nur römische Rechtsanschauungen zu Grunde gelegt u. die eigenthümliche Verfassungsentwickelung des Deutschen Reichs verkannt. Im Anfange des 17. Jahrh. trat Domin. Arumäus, Professor in Jena (gest. 1637), zum ersten Mal mit eigenen akademischen Vorlesungen über öffentliches Recht u. einem Lehrbuch über dasselbe (Discursus academici de jure publico, Jena 1616) auf; ihm folgten mit umfassenderen Werken Joh. Limnäus (gest. 1666) u. Herm. Conring (s.d.), von denen namentlich der Letztere durch eine bessere, die Geschichte u. älteren Quellen berücksichtigende Methode hervorleuchtete. Den größten Einfluß auf die bessere Bearbeitung des allgemeinen wie des besonderen S-s hatten aber die Werke von Hugo Grotius (s.d.) De jure belli et pacis u. von Bog. Phil. von Chemnitz (s.d.), pseudonym Hippolytus a Lapide De ratione status in imperio nostro Romano-Germanico. Während erstere Schrift einer gründlicheren Bearbeitung des allgemeinen Staats- u. Völkerrechts die Bahn brach, wurde durch die letztere bes. dem Mißbrauch römischer Rechtssätze im S. gesteuert. Für das Territorialstaatsrecht lieferte V. L. von Seckendorfs (s.d.) Deutscher Fürstenstaat die erste praktische Bearbeitung. Seit dem Ende des 17. Jahrh. u. bes. im 18. Jahrh. mehrten sich die Bearbeitungen sowohl des allgemeinen S-s, als einzelner publicistischer Lehren in ansehnlichster Weise; unter den Schritstellern der damaligen Zeit sind bes. zu nennen: Dav. Mevius, Ph. R. Vitriarius, von Lyncker, I. F. Pfeffinger, I. Schilter, Ludolf, Leucht, Lünig, Londorp, Müller, Cocceji, Chr. Thomasius, I. P. von Ludewig, I. H. Böhmer. Alle diese übertraf aber durch seine große praktische Erfahrung, Freimüthigkeit u. Gelehrsamkeit Joh. Jac. Moser (s.d.). dessen Schriften über das S. fast eine eigene Bibliothek bilden. Als Sammler u. Herausgeber wichtiger Staatsacten sind C. W. Gärtner, G. von Meiern (Acta pacis Westphalicae) u. von Guden zu nennen. Höchst bedeutend wurde im letzten Viertel des 18. Jahrh. als Lehrer des S-s Joh. St. Pütter; seine mit historisch-praktischem Sinn verfaßten Schriften (Literatur des deutschen S-s, Gött. 1776–83, 3 Thle.; Elementa juris publici, 4. Ausg. ebd. 1766; Kurzer Begriff des deutschen S-s, ebd. 1764; Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des deutschen Reichs, ebd. 1786, 3 Thle.; Beiträge zum deutschen Staats- u. Fürstenrechte, ebd. 1777–79, 2 Thle.; Erörterungen u. Beispiele, ebd. 1793, 1794, 2 Bde. u. viele publicistische Gutachten) haben zum Theil noch heute ihren praktischen Werth. Nach ihm haben noch zur Zeit des Deutschen Reiches Schnaubert, Leist, Häberlin, Gönner, in der Zeit des Rheinbundes von Berg, Klüber u. C. Sal. Zachariä, in neuester Zeit bes. von Dresch, K. E. Schmid, Zöpfl, Pernice, Heffter, Stahl, H. A. Zachariä, R. von [640] Mohl, Bluntschli, von Rönne auf dem Gebiete des S-s sich ausgezeichnet. Systematische Schriften über deutsches S. der Gegenwart sind bes.: I. L. Klüber, Öffentliches Recht des deutschen Bundes u. der Bundesstaaten, 4. Aufl. 1840; Schmalz, Deutsches S., Berl. 1825; Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen S-s, 1837; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- u. Bundesrecht, 2. Aufl. Gött. 1853; L. Zöpfl, Grundsätze des gemeinen deutschen S-s, 5. Aufl. Lpz. u. Heidelb. 1863; Held, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands, mit besonderer Rücksicht auf Constitutionalismus, Würzb. 1856, 1858; O. Mejer, Einleitung in das deutsche S., Rost. 1861; Bluntschli, Allgemeines S., geschichtlich begründet, München 1862. Lexikalische Werke: von Rotteck u. Welcker, Staatslexikon, 1834–44, 15 Bde., 3. Aufl. Lpz. 1856 ff., Bluntschli u. Brater, Staatswörterbuch, 1857 ff.; Wagener, Staats- u. Gesellschaftslexikon, Berl. 1858 ff.; vermischte Abhandlungen: Heffter, Beiträge zum deutschen Staats- u. Fürstenrecht, 1829;von Dresch, Abhandlungen, 1830; I. L. Klüber, Abhandlungen u. Beobachtungen, 1830–34, 2 Bde.; Reyscher, Publicistische Versuche, 1832; F. Wippermann, Beiträge zum S., 1. Heft, 1844; Zeitschriften: Pölitz (später Bülau), Jahrbuch der Geschichte u. Politik; Buddeus, Deutsches Staatsarchiv, 1840–43; Weil, Constitutionelle Jahrbücher, 1843 ff.; von Mohl, Fallati u.a., Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Tüb. 1844 ff.; von Linde, Archiv für das öffentliche Recht des Deutschen Bundes, Gießen 1850–61, 4 Bde. Über das S. der einzelnen Staaten s. die betreffenden Artikel. Über Quellensammlungen vgl. Staatsgrundgesetze.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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