- Kirchenrecht
Kirchenrecht (Jus ecclesiasticum), der Inbegriff u. die wissenschaftliche Entwickelung der Normen, welche sich auf die äußere Ordnung die Kirche als eines gegliederten Organismus beziehen. I. Obschon die Küche als die Gemeinschaft, der Gläubigen zunähst nur eine innerliche, geistige Verbindung ist, so bedarf sie doch auch, um ihre Zwecke in de. Welt erfüllen zu können, einer äußeren Gestaltung, äußerer Organe, u. Mittel; die rechtlichen Satzungen, welche über die Thätigkeit dieser Organe, die Verwendung der Mittel, die Pflichten der kirchlichen Angehörigen jenen Organen gegenüber etc., sich nothwendig bilden müssen, geben den Begriff des K-s. Die äußere Thätigkeit jeder Kirche wird wesentlich durch ihre Lehre bestimmt, daher es auch da, wo der religiöse Glaube sich an die Staatsidee angeschlossen hat u. die Religion eine nationelle ist, so wenig ein besonderes K., wie eine besondere Kirche[509] gibt, dagegen aber da, wo in einem Staatswesen verschiedene Kirchen bestehen, jede Kirche ihr besonderes K. hat. Dennoch gibt es wenigstens für das Recht der christlichen Kirchen, vermöge der Einheit des Glaubens in den ersten Lehrsätzen u. der historischen Entwickelung aller christlichen Kirchengemeinschaften aus der apostolischen Gemeinschaft einen gemeinsamen Kern, weshalb man ein Gemeines K. (Jus ecclesiasticum generale), als das für alle christlichen Kirchen gemeinsam geltende stecht, u. ein besonderes K. (Jus eccles particulaire), als das nur für einzelne Kirchen gültige Recht unterscheidet. Auf den Gegenstand der Rechtssätze bezieht sich außerdem die Einteilung in äußeres K., welches die rechtlichen Beziehungen der Kirche zum Staate u. zu anderen kirchlichen Genossenschaften, u. inneres K, welches die innere Verfassung der Kirche u. das Verhalten der Glieder der kirchlichen Gemeinschaft zu einander betrifft. Eine Einteilung in öffentliches u. Privatkirchenrecht hat keinen Grund, indem das Recht der Kirche als solches nur öffentliches sein kann; u. die Einteilung in natürliches u. positives K. (Schmalz, Natürliches K., Königsb. 1795; Krug, H. nach den Grundsätzen der Vernunft, Lpz. 1826), beruht auf der veralteten, unrichtigen Ansicht über das Naturrecht (s.d.). Zwar verwandt, seinem Begriffe nach, aber doch wesentlich verschieden vom K. ist das kanonische Recht (J. canonicum), indem man darunter nur dasjenige Recht begreift, welches in den zu allgemeinem Ansehn gelangten kirchenrechtlichen Sammlungen des Corpus juris canonici (s.d.) enthalten ist.
II. Die Quellen des christlichen K-s in Deutschland sind theils gemeinsame, theils besondere, jeder Kirche eigenthümliche. Zu den A) gemeinsamen Quellen gehören die Heilige Schrift, wobei jedoch die Evangelische Kirche von der Katholischen insofern in der Benutzung abweicht, als letztere in der Tradition u. dem Ausspruche des Kirchenoberhauptes eine unfehlbare Auslegung der Schrift annimmt, welche die Evangelische Kirche nicht anerkennt: ferner das Canonische, Rechtsbuch u. die deutschen Rechtsgrundgesetze (von letzteren insbesondere der Westfälische Friede von 1648, der Reichsdeputationshauptschluß von 1803, die Deutsche Bundesacte von 1815), so wie für das K. der einzelnen Territorien, die für die verschiedenen Kirchen gemeinsam erlassenen Gesche, insbesondere die Bestimmungen der neuern Verfassungsurkunden. B) Die besondern Quellen sind: a) für das Katholische K. namentlich die Tradition, die Entscheidungen der allgemeinen Concilien u. die allgemeinen Verordnungen der Papste (Bullen u. Breven), die Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes zu Rom (Decisiones rotae romanae), insoweit sie einen Gerichtsgebrauch bekunden, die römischen Kanzleiregeln u. neuerdings besonders die Cocordate (s.d.); b) für das Protestantische K. die Bekenntnißschaften der Reformatoren u. die von den Landesherren als Kirchenobern erlassenen, zum Theil gemeinsam auf den Conclusa corporis Evangelicorum beruhenden Landesgesetze, namentlich im 16. u. 17. Jähh.), besonders häufigen Kirchenordnungen (Richter, Sammlung der evangelischen Kirchenordnungen des 16 Jahrh., Weim. 1846, 2 Bde.; Derselbe, Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung, Leipz. 1851).
III. Die Grundzüge der Verfassungslehre lassen sich A) für die Katholische Kirche auf folgende Sätze zurückführen: Die Kirche ist nach katholischer Auffassung die Gesammtheit aller Gläubigen unter dem Regiment ihres gesetzmäßigen, Oberhirten u. Stellvertreters Christi auf Erden, des Papstes zu Rom. Die Kirche ist daher nur eine einzige, untheilbare u. ihre Verfassung in allen Verhältnissen im Wesentlichen dieselbe. Die Vollmachten, welche in die Kirche gelegt sind, um die Gläubigen dem ewigen Heile zuzuführen, sind theils auf die Vermittelung der göttlichen Güter u. Gnaden, insbesondere Spendung der Sacramente, theils auf die Erhaltung u. Regierung des kirchlichen Leibes gerichtet. Diesen Vollmachten entspricht die Eintheilung des kirchlichen Amtes in Potestas ordinis u. Potestas jurisdictionis. Die erstere ruht in vollem Umfange in den Bischöfen, die sie aber durch die Ordination für die einzelnen Bezirke u. Genossenschaften auf die Priester übertragen, denen zur Hülfsleistung wieder die Diakonen, Subdiakonen etc. beigegeben sind. Diese drei Stufen bilden daher die Hierarchia ordinis. Die Potestas jurisdictions, die eigentliche Regierungsgewalt in der kirchlichen Genossenschaft aber ist in die Bischöfe u. den Papst gelegt, zwischen denen durch menschliche Satzung noch die Erzbischöfe, Primaten, Patriarchen als Mittelstufen eingeschoben sind (Hierarchia jurisdictionis). Der Papst erscheint daher hier als Gipfelpunkt; allein mit welcher Berechtigung, ist in der Theorie verschieden beantwortet (s.u. Kirchengewalt). Es ergibt sich daraus, daß die Kirchengewalt nur in den Händen des geweihten Standes, des Clerus, ruhen kann. Denn wenn auch ausnahmsweise die bischöflichen Regierungsrechte an Personen übertragen werden können, welche nicht die bischöfliche Consecration erlangt haben, so wird dabei doch immer vorausgesetzt, daß diese Person zu den geweihten Personen gehöre, u. insofern ist die Potestas jurisdictionis nothwendig an die Potestas ordinis gebunden. Die Laien sind von allem thätigen Eingreifen in das Kirchenregiment ausgeschlossen u. haben vielmehr nur die Pflicht, in allen Sachen des Glaubens u. der Disciplin sich unter das Gebot des Clerus zu beugen B) Die Evangelische Lehre bestreitet den Anspruch der Katholischen, die allgemeine Kirche zu sein, indem sie keine Nothwendigkeit anerkennt, daß die äußere Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft sich nur in Einer Gestalt auspräge, vielmehr dabei der Individualität der Völker u. Zeiten einen bestimmenden u. Einfluß einräumt. Daher zerfällt die Evangelische Kirche in einzelne Landeskirchen, die durch verschiedene Verfassung von einander getrennt sind. Nächstdem erkennt aber auch dir Evangelische Kirche nicht an, daß die Regierungsgewalt der Kirche nur in einem bestimmtem Stande, dem Clerus, ruhe; diesem ist nur das Amt des Wortes (Ministerium verbi divini) anvertraut; die Kirchengewalt dagegen als die Macht, die Kirche zu leiten u. Zucht u. Disciplin in ihr zu erhalten, steht der Kirche in allen ihren Gliedern zu u. sie kann dabei auch durch Beschluß od. durch die geschichtliche Entwickelung an einen weltlichen Träger gelangen. Natürlich ist die Gewalt im evangelischen Geiste zu führen. Wenn daher die Evangelische Kirchengewalt nach dem Gange der Reformation an die evangelischen Landesfürsten gelangt ist, so ist die Kirche doch hierdurch nicht zu einem Staatsinstitut[510] geworden u. lediglich nach Gründen der Staatspolitik zu leiten, vielmehr ist Kirchenregiment u. Staatsgewalt nur als eine an sich zweifache Gewalt in einer Personeneinheit verknüpft. Die Kirche kann deshalb jedenfalls auch verlangen, nicht allein daß sie durch eine eigene evangelische Oberbehörde regiert werde, sondern auch, daß namentlich dann, wenn die Landeshoheit an einen Fürsten anderer Religion übergehen sollte, wenigstens die Ausübung des Kirchenregimentes einem Collegium od. einer andern Person desselben Glaubensbekenntnisses übertragen werde.
IV. Dagegen ist der Staatsgewalt keiner Kirche gegenüber die sogenannte Kirchenhoheit zu bestreiten; vielmehr bildet dieselbe ein aus dem allgemeinen Oberaufsichtsrechte des Staates sich von selbst ergebendes u. daher mit jeder Staatsgewalt unzertrennbar verbundenes Hoheitsrecht. Dasselbe äußert sich in dem Reformations-, Beaufsichtigungs- u. Oberschutzrecht. A) Das Reformationsrecht (Jus reformandi, Religionsbann) befasst die Recht: des Staates, die Ausübung einer Religion überhaupt im Staatsgebiete zu gestatten u. daher auch Veränderungen in der Religionsübung von seiner Genehmigung abhängig zu machen, sowie Bekennern nicht geduldeter Religionen den Aufenthalt im Staatsgebiete zu versagen. Für die Deutschen Lande wurde aber dies Reformationsrecht schon durch den Westfälischen Frieden nach dem Besitzstand dergestalt eingeschränkt, daß den Untertanen einer andern Confession, als welcher der Landesherr angehörte, dir Religionsübung auch ferner in der Maße zustehen solle, wie sie dieselbe im Jahre 1624 besessen hätten, u. daß, selbst wenn sich auf einen solchen Besitz nicht berufen werden könnte, solchen Untertanen doch Gewissensfreiheit, der Besuch auswärtiger Gottesdienste, Hausandacht, bürgerliches Gewerbe u. ehrliches Begräbniß nicht versagt, auch bei Auswanderung ihnen ihr Vermögen ungeschmälert belassen werden solle. Noch weiter ist dies Recht neuerdings durch die Deutsche Bundesacte (Art. 16.) beschränkt worden, indem auch dies: von der Verschiedenheit der christlichen Religionsparteien nirgends mehr einen Unterschied der politischen u. bürgerlichen Rechte abhängen läßt. In Folge dessen ist die Bedeutung des Reformationsrechtes für die drei bereits im Deutschen Reiche recipirten Confessionen hinweggehen u. sie besteht nur noch in Bezug auf die neben den drei großen Religionsgemeinschaften sich bildenden Secten, so wie insofern, als es dem Landesherr freisteht, über die durch den Westfälischen Frieden erlangten Rechte hinaus, die Stufe der Religionsübung (Hausandacht od. öffentlichen Cultus etc.) zu bestimmen, welche er der einzelnen Confession einräumen will. Doch sind auch in dieser Hinsicht die Territorialrechte noch weiter gegangen, indem in den neueren Verfassungsurkunden sich meist allgemein die Freiheit des Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften u. der gemeinsamen häuslichen u. öffentlichen Religionsübung ausgesprochen findet. B) Das Beaufsichtigungsrecht (Inspectio secularis, Jus inspiciendi, J. cavendi) ist das Recht des Staates, darauf zu sehen, daß keine Thätigkeit der Kirche das eigene Leben des Staates gefährde od. das Recht einer andern Kirche kränke. Gegenüber der Katholischen Kirche gehört dahin die Überwachung des Verkehrs mit dem Römischen Stuhl, der Vorbehalt des Placet regium (s.d.) od. doch die Einsicht für die Erlasse der kirchlichen Autoritäten, die vorbehaltene Genehmigung zur Anstellung von höhern Kirchenbeamten, zur Berufung von Synoden, zur Erwerbung liegender Gründe etc. Bei der Evangelischen Küche tritt dies Recht deshalb weniger hervor, weil Staatsaufsicht u. Regiment verschmolzen ist. C) Das Oberschutzrecht (Jus advocatiae, Advoctia ecclesiastica) ist das Recht u. die Pflicht des Staates, bei hervortretenden Übergriffen der geistlichen Gewalt, wie bei Verletzung der der Kirche zustehenden Rechte schützend u. richtend einzutreten.
V. Bearbeitungen des K-s: von katholischen Verfassern: Hallwein, Principia juris eccles. universal., Wien 1781, 5 Bde.; Frey, Kritischer Commentar über das K., Kitzingen 1823 ff.; Alexander Müller, Encyclopädisches Handbuch des gesammten K-s, Erf. u. Lpz; 1829–32, 2 Bde.; Andreas Müller, Lexikon des K-s. 2. Aufl. Würzb. 1838 f., 2 Bde.; Philipps, Kirchenrecht, Regensb. 1845 ff.. 8 Bde.; Walter, Lehrbuch des K-s, 12, Aufl., Bonn 1856, Brendel, Handbuch des katholischen u. protestantischen K-s, 3. Aufl., Nürnb. 1850 3 Bde.; von Droste-Hülshoff, Grundsätze des gemeinen K-s, 2. Aufl., Münst. 1832 f.; Gitzler, Handbuch des gemeinen preußischen K-s, Berl 1841; Helfert, Handbuch des K-s aus den gem. u. österreich Quellen zusammengestellt, 3. Aufl., Prag 1846; Permaneder, Handbuch des K-s, 3. Ausg., Landsh. 1856: Schöpf, Handbuch des katholischen K-s, Salzb. 1854 f.; Schulte, System des allg. katholischen K-s, Gieß. 1856; Roßhirt, Canon. Recht, Schaffh. 1857, Ders., Lehrbuch des K-s, 3. Aufl. ebd. 1858. Von protestantischen Verfassern: I. H. Böhmer, Jus eccles protestantium, Halle 1714, 5. Aufl. ebd. 1756: Derselbe, In Institutiones juris can., 1838; G. Wiese, Handbuch des gem. in Deutschland üblichen K-s, Lpz. 1799 ff., 3 Bde., Derselbe, Grundsätze des gem. K-s, 6. Aufl. von Marstadt, Gött. 1849; Schnaubert, Grundsätze des K-s, 2. Ausg., Jena 1806; K. Fr. Eichhorn, Grundsätze des K-s, Gött. 1831–33, 2 Bde.: B. Majer, Institutionen des K-s, 2. Aufl., ebd. 1856; Richter, Lehrbuch des katholischen u. evangelischen K-s, 5. Aufl., Lpz. 1858. Über territoriales K. vgl. noch von Österreich: von Barth-Barthenheim, Österreichs, geistliche Angelegenheiten, Wien 1841; Ginzel, Österreichisches K., Wien 1857, 1. Bd.; von Preußen: Jacobson, Geschichte der Quellen des K-s des Preußischen Staates, Königsb. 1837–39 u. 1844; Bielitz, Handbuch des preusischen K-s, 2. Ausg., Lpz. 1831; Delius, Übersicht des preußischen K-s, Bresl. 1856; von Baiern: Gründler, Das im Königreich Baiern geltende katholische u. protestantische K., Nürnb. 1839; von Sachsen: von Weber, Systematische Darstellungen des im Königreich Sachsen geltenden K-s, 2. Aufl., Lpz. 1843; von Württemberg: Hauber, Recht u. Brauch des evangelischlutherischen K-s in Württemb., Stuttg. 1854–56, 2 Bde., etc. Über Geschichte des K-s: K. Hase, Commentarii historici de jure eccles., Lpz. 1828–32; Wickell, Geschichte des K-s, Gießen 1843–49, 1. Bd.; Gitzler Geschichte der Quellen des K-s, Berl 1855; Roßhirt, Gesch. des Rechts im Mittelalter. 1. Bd. (Canon. R.), Mainz 1846.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.