- Sachsenspiegel
Sachsenspiegel (Sächsisches Land- u. Lehnrecht), die älteste u. wichtigste Aufzeichnung des in Deutschland, bes. in Sachsen, noch vor jedem Bekanntwerden des Römischen Rechtes geltenden Gewohnheitsrechtes. Über die Entstehung des S-s gibt eine in vielen Handschriften stehende rhythmische Vorrede Aufschluß. Verfasser der Aufzeichnung war hiernach ein anhaltischer Ritter, Eike (Ecke, Eiche) von Repgowe (Repkow, Reppichau, zwischen Dessau u. Köthen), welcher auch sonst mehrfach als Schöffe in Wettin u. Salpke vorkommt u. das Buch auf Veranlassung des Grafen Hoier von Mansfeld schrieb. Die Zeit der Verabfassung ist wahrscheinlich in die Jahre 1224–1235 zu setzen, da das Buch der erst im Jahr 1224 durch ein kaiserliches Gesetz eingeführte Strafe des Feuertodes für die Ketzer gedenkt, dagegen die im Jahr 1235 erfolgte Gründung des Herzogthums Braunschweig-Lüneburg nicht kennt. Doch[732] tragen einzelne in ihm aufgenommene Bestimmungen einen sehr alterthümlichen Charakter, welcher besser dem 12. Jahrh. od. einer noch früheren Zeit entsprechen würde. Daniels (s. unten) hält dagegen den S. für kein Original, sondern für eine für das Sachsenland gemachte Bearbeitung des Schwabenspiegels mit einigen Ergänzungen aus dem Sächsischen Weichbilde; auch sei Eike nicht der Verfasser, sondern wahrscheinlich nur Übersetzer jener rhythmischen Vorrede, eines Auszugs einer Chronik. Die Absicht des Verfassers war nicht darauf gerichtet, eine vollständige Aufzeichnung des gesammten geltenden Rechtes zu geben, noch weniger kann es als Plan des Werkes gelten, dadurch dem Eindringen des Römischen Rechtes einen Damm entgegenzusetzen, die Aufzeichnung sollte vielmehr zunächst nur eine Zusammenstellung des Rechtes geben, welches in den mit ungelehrten Schöffen besetzten Landgerichten seines Volksstammes zur Übung gelangte, weshalb der Verfasser die abweichenden Grundsätze anderer Stämme u. Länder nur beiläufig bespricht, auch nur das Recht der freien Ritter u. Bauern darstellt u. das Recht der Städte nur gelegentlich erwähnt, das Hof- u. Dienstrecht der Unfreien aber ausdrücklich ausschließt. Die erhaltenen Handschriften überliefern den S. in verschiedener Gestalt, indem einige mehr, andere weniger enthalten, manche den Stoff in einer fortlaufenden Reihe von Artikeln geben, andere ihn dagegen in Bücher eintheilen. In den neueren Ausgaben ist allgemein die Eintheilung in drei Bücher mit Artikeln gebräuchlich geworden, denen sich als ein viertes Buch die Darstellung des Lehnrechtes anschließt. Das letztere scheint als Quelle ein in Lateinischer Sprache geschriebenes Rechtsbuch, den sogenannten Vetus auctor de beneficiis zu haben, welches wahrscheinlich ebenfalls Eike von Repkow zum Verfasser hat. Die älteste erhaltene Handschrift des S-s ist die Quedlinburger, wahrscheinlich noch aus dem 13. Jahrh. Dieselbe liefert den Text in Obersächsischer Mundart, welche auch als der ursprüngliche Dialekt des Werkes zu betrachten ist, woneben es indessen allerdings auch eine große Anzahl Handschriften in Niederdeutscher Sprache u. selbst einige in Oberdeutscher Mundart gibt. Obschon nur eine Privatarbeit, erlangte der S. sehr bald auch außerhalb Sachsens bedeutendes Ansehen, so daß er als eine unmittelbare Quelle des Rechtes betrachtet wurde. Man findet ihn daher schon im 14. u. 15. Jahrh. in allen Gegenden Niederdeutschlands, in Holstein, Dänemark, Westfalen, Holland, in der Lausitz, Böhmen, Schlesien, Mähren, Preußen, Polen bis Livland als gültige Rechtsquelle verbreitet, u. einer großen Anzahl anderer Rechtsbücher wurde er Vorbild u. Muster. In Süddeutschland bes. entstand nach ihm der Spiegel der deutschen Leute (erst 1857 in Innsbruck durch Professor Ficker entdeckt) u. der Schwabenspiegel (s.d.); andere Bearbeitungen, zum Theil mit Benutzung weiterer Stadt- u. Landrechte, sind das sogenannte systematische Sächsische Landrecht, eine systematische Bearbeitung für Berlin (vgl. Fidicin, Historisch-diplomatische Beiträge zur Geschichte der Stadt Berlin, J. 1857), das Görlitzer Rechtsbuch (Köhler, Das Görlitzer Rechtsbuch, Görl. 1837), das Breslauer Landrecht (vgl. Gaupp, Das Schlesische Landrecht, Lpz. 1828) u. der Holländische S. (Ausg. von 1763). Auch in das Lateinische wurde der S. mehrmals, zuerst auf Antrieb des Bischofs Thomas von Breslau in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh., dann durch den Notar Konrad in Sandomir u. noch einmal in Polen übersetzt. Zur Erläuterung wurde überdies der Text des S-s frühzeitig mit Glossen versehen. Die älteste Glosse rührt von einem märkischen Ritter Johann von Buch her, welcher auch den sogenannten Richtsteig Landrechts (herausgeg. von Homeyer, Berl. 1857), eine Anleitung zum gerichtlichen Verfahren nach den Grundsätzen des S-s, verfaßte; andere Glossen lieferten Nicolaus Wurm, von welchem auch die Blume des S-s, gleichfalls eine Anleitung zum gerichtlichen Proceß, herrührt, ferner von Brand von Tzerstedt, Damianus u. Theoderich von Boxdorf u. Petrus von Posen. Eine andere Art Erläuterung ist in den sogenanten Bilderhandschriften des S-s erhalten, in denen man den Inhalt einzelner Artikel durch gezeichnete od. colorirte Bilder erklärt findet u. von denen bes. in Heidelberg, Oldenburg, Dresden, Görlitz u. Wolfenbüttel mehre erhalten sind (vgl. Kopp, Bilder u. Schriften der Vorzeit, 1819; Batt, von Babo, Mone u. Weber, Deutsche Denkmäler, 1. Lief., Heidelb. 1820). Der S. ist auch die Quelle des Magdeburger Weichbildrechtes, welches am Anfange des 14. Jahrh. entstand, ihn zum Theil wirklich benutzte u. sich über die Städte ganz Sachsens verbreitete, des sogenannten Vermehrten S-s od. des Rechtsbuch nach Distinctionen, welches in Thüringen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. entstand, u. des Richtsteigs Lehnrechts aus derselben Zeit. Im 14. Jahrh. machte die Geistlichkeit den Versuch, weil sie die Würde des Papstes u. der Kirche durch eine Reihe von Artikeln des S-s beeinträchtigt hielt, dem Ansehen des Rechtsbuches entgegenzuwirken, besonders verbreitete Johann Klenkok, Augustinermönch u. Professor der Theologie in Erfurt, um die Mitte des 14. Jahrh. eine Widerlegung von 10 Artikeln in einer Schrift, welche er Decadicon contra errores speculi saxonici benannte. Später vermehrte er die Zahl der von ihm angefochtenen Artikel bis auf 21. In der That erließ hierauf Papst Gregor XI. im Jahr 1374 eine Bulle gegen den Gebrauch des S-s, in welcher er von den 21 durch Klenkok angefochtenen Artikeln 14 für verwerflich (Articuli reprobati), den übrigen Inhalt des Buches aber für ungefährlich erklärte. Doch hatten diese Bestrebungen nur geringen Erfolg, indem nur wenig Spuren erhalten sind, daß man die Articuli reprobati auch wirklich als solche behandelte. Ausgaben: die älteste Basel, 1474, Fol.; von Zobel, 1635 u.ö.; von Ludovici, Halle 1720; von Gärtner, Lpz. 1732; von Homeyer, Berl. 1827, 3. Ausg. ebd. 1861; von Weiske, Lpz. 1840, 2. Aausg. 1853; von Sachße, (mit Repertorium u. Übersetzung) Heidelb. 1848; von Göschen, Halle 1853; von Daniels, Berl. 1858 (in synoptischer Verbindung mit dem Schwabenspiegel u. dessen französischer Übersetzung). Vgl. noch: von Daniels, Alter u. Ursprung des S-s, Berl. 1853; Homeyer, Die Stellung des S-s zum Schwabenspiegel, ebd. 1853; Ficker, Über die Entstehungszeit des S-s, Innsbr. 1859. Vgl. Schwabenspiegel.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.