- Aderlassen
Aderlassen, 1) (Blutlassen), eins der ältesten u. früher beliebtes Mittel, um zur Verhütung, Beseitigung od. Linderung eines Krankheitsleidens einzuwirken. At Allgemeine Blutentziehung, dabei wird gewöhnlich eine Vene, selten eine Arterie, zur Eröffnung gewählt. Man wählt zum A. im eigentlichen Sinne (Venäsection, Phlebotomie) gewöhnlich a) am Arme die Cephalicaveuc auf der, Daumseite, wenn sie hinlänglich sichtbar ist, od. die Medianavene in der Mitte, die meist am bequemsten dazu ist, seltener die Basilicavene, weil hier leicht die Armarterie verletzt werden kann; auch bes. bei Personen mit sehr fetten Armen u. kleinen Hautvenen, an der Hand die Cephalica zwischen dem Mittelhandknochen des Daumens u. Zeigefingers, od. die Salvatellaveuc zwischen denen des 4. u. 5. Fingers. Damit die Venen sichtbar werden, bindet man den Oberarm mit einer 3–4 Finger breiten Aderlaßbinde. Zu dem b) A. am Fuß wählt man gewöhnlich die Cephalica der großen Zehe, od. die Saphena u. läßt, damit solche sichtbar werden, den Fuß vorher in warmes Wasser setzen. Selten u. nur in Todesgefahr (wie bes. beim Scheintod von Erstickung) ist c) das Oeffnen einer Drosselader am Halse, noch seltener d) das der Stirnvene, od. e) der Zungenvene. Zweck des A-s war schnelle Verminderung der Blutmasse bei sogenannter Vollblütigkeit in heftigen reinen, frische u. ungeschwächte Körper[129] betreffenden Entzündungskrankheiten edler Theile, bes. der Lungen u. des Gehirns; andere Anzeigen gaben der Genius einer herrschenden Fieberkrankheit, große Kälte, Ostluft, hoher Barometerstand etc. Ein anderer Zweck war Ableitung des Bluts von einem Theil zu bewirken (Derivations-A.), wo Congestionen von Blut nach einem Theil, wo Blutflüsse etc. zu fürchten waren. Gegenanzeigen gaben constitutionelle od. krankhafte Schwäche, die man jedoch bei Gefahr nicht allzusehr berücksichtigen zu dürfen glaubte. In Zweifelsfällen wurde bisweilen Probe-A. angestellt, um aus dem Erfolg zu ersehen, ob es rathsam sei, solches zu wiederholen, od. auch reichlicher Blut zu entziehen, u. galt es oft von Vortheil, schnell u. viel Blut zu entziehen. Meist bestimmt hierzu der Puls, der, wo A. nützt, voll u. hart, u. nur in seltenen Fällen klein u. zurückgezogen sein soll. Das A. geschieht am sichersten mit der Lanzette, in Deutschland auch mit dem Schnepper, sonst der Fliete u. dem Laßeisen (Aderlaßeisen, s. Lanzette). Der ganze hierzu gehörige Apparat heißt Aderlaßapparat. Wenn, wie viel, wo u. in welcher Art Blut zu lassen ist, ist eine Aufgabe des Arztes. Man läßt 1/2–1 Pfund Blut, selten über 2–3 Pfund, u. wiederholt dann lieber das A. Ohnmachten, von denen reizbare Personen beim A. zuweilen, zumal zum Ende desselben, befallen werden, sind vorübergehend, zuweilen werden sie verhütet, wenn die Kranken nicht aufrecht sitzen. Die kleine Aderwunde wird mit einem Bäuschchen u. darüber gelegter einfacher Binde (Aderbinde, Aderlaßbinde) verbunden u. heilt gewöhnlich leicht, so daß man solche nur etwa 2 Tage liegen zu lassen braucht. Verletzungen von Nerven, Sehnen, Arterien können bisweilen gefährlich werden u. erheischen besondere Hülfe. Die Arteriotomie (Schlagaderöffnung) wirkt noch energischer als der Venen-A., ist aber nur für wenig Fälle, wie bei heftigen Entzündungen des Gehirns, heftigen Congestionen nach demselben, bei Schlagfluß, Kopfverletzungen etc. diesem vorangestellt worden. Man wählt dazu fast ausschließlich die Schläfearterie u. zwar ihren vordern od. Stirnast. Die Arterie wird am besten mit der Lanzette od. dem Bistouri geöffnet od. durchschnitten u. in beiden Fällen doppelt unterbunden. B) Oertliche Blutentziehung stellt man in der Nähe des leidenden Theils an u. kann die kleinen Gefäße, in denen sich Blut (wie bei Entzündungen) angehäuft hat, so leichter entleeren; man bewirkt dabei blos eine Hautblutung; häufig nach allgemeiner Blutentziehung angeordnet, od. auch bei Entzündungen, wo nur Ein Theil ergriffen ist. Früher bediente man sich dazu des Scarisicirens, bes. in der als Schröpfen bekannten Art, jetzt der Blutegel. Bei der örtlichen Blutentziehung muß auch die Wirkung des Hautreizes in Rechnung gebracht werden. – Des A-s wird schon in den ältesten Schriften der griech. Ärzte häufig gedacht, später ist es bald über die Gebühr erhoben, bald als gefährlich u. schädlich sehr herabgewürdigt worden. Der größte Mißbrauch ward vom Volke nach Anleitung der arabischen Ärzte u. der des Mittelalters noch bis auf die neueste Zeit mit den sogen. vorbauenden od. Präservativaderlässen getrieben, wozu selbst die Kalender Anleitung gaben. Der Nutzen des A-s ist nur bei Ohnmachten zur Belebung des Blutlaufes u. bei starken Verwundungen zur Mäßigung des Wundfiebers jetzt noch unbestritten, seine Unzweckmäßigkeit als Ableitung bei Lungenentzündung, Blutspucken, Typhus etc. anerkannt. Zuweilen wird statt der Vene od. zugleich mit der Vene eine naheliegende Arterie geöffnet, was man an dem hellrothen Blute u. pulsirendem Strahl erkennt. Man muß alsdann zur Unterbindung der Arterie od. deren Compression schreiten (Aderpresse), s. Compressorium, Tourniquet. Die größte Gefahr bringt der allerdings selten erfolgende Lufteintritt in die Halsvene (s.d.), wie vom Blitz getroffen stirbt der Kranke meist augenblicklich. Vgl. Mezler, Gesch. des A., Ulm 1793; Klose, Über künstliche Blutausleerungen, aus dem Franz. des Vieussieux, Bresl. 1819; Schneider, Der A., Tüb. 1827; Nopitzsch, Chronol. u. Lit. der Blutentziehungen, Nürnb. 1833; Marshall Hall, Über Blutentziehungen, a. d. Engl., Berl. 1837. A. bei Thieren wird öfters, häufig aber auch mißbräuchlich, angewendet; gut gilt es bes. bei Thieren (namentlich Pferden), denen bei gutem Futter Bewegung mangelt, auch in gewissen Epidemien (z.B. Milzbrand des Rindviehs, Blutstaupe der Schafe u. a.). Zur Operation bedient man sich bes. der Lanzette. Bei Pferden, Eseln, Rindvieh u. Ziegen wird häufig die Drosselader geöffnet, außerdem die Bugader u. andere Hautvenen; bei Schafen die Eckader am Backen; bei Schweinen ein Stück vom Ohr od. Schwanz abgeschnitten; überhaupt wird am Halse, an der Stirn, über u. unter dem Auge, am Schwanze, Fuße etc. Blut abgezapft. Einem Pferde wird bei einem starken A. 6–8 Pfund, bei einem schwachen 3–5 Pfund weggelassen, dem Rindvieh bei einem starken 5, bei gewöhnlichen 21/2 Pfund, einem Kalbe 3–4 Unzen, dem Schafe 2–6 Unzen, einem Schweine 10–12 Unzen, Ziegen etwa 6 Unzen. Um die Wunde zu schließen, wird eine Stecknadel durch beide Wundränder gesteckt u. ein Faden od. Haar aus einem Pferdeschweife, in einem chirurgischen Knoten darum gewunden. Die Heilung erfolgt binnen 2 Tagen.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.