Hysterie

Hysterie

Hysterie (Hysteriăsis, Hysterismus, v. gr.), Krankheit des weiblichen Geschlechts von den Jahren der Mannbarkeit an, bisweilen erst mit dem Erlöschen der weiblichen Geschlechtsverrichtungen sich mindernd od. verlierend, bisweilen sich aber dann auch erst ausbildend, welche ihren nächsten Grund in einer erhöhten Reizbarkeit u. krankhaften Verstimmung des Nervensystems überhaupt, insbesondere aber desjenigen des Unterleibs u. der Geschlechtstheile hat, in den verschiedenartigsten, meist nervösen Beschwerden, Schmerzen u. Krämpfen, so wie in einem wunderlichen Wechsel der Gemüthsstimmung u. Gefühle sich andeutet u. durch zu große Aufmerksamkeit auf das Leiden, ohnmächtige Hingebung, Langeweile. oft auch durch die Sucht Aufsehen u. Mitleiden zu erregen, Nichtbeachten der ärztlichen, vorzüglich der diätetischen Vorschriften gehegt, höchst quälend wird, dessen Schrecken aber meist auf Täuschungen des überreizten Gemeingefühls beruhen u. daher auch selten Gefahr bringen. Es gibt kaum eine Krankheitserscheinung, von der einfachsten Krampfbewegung bis zur Ohnmacht u. zum Scheintode, welche hier nicht einträte, od. doch, bei dem sehr erhöhten [692] Gemeingefühl der Kranken, von diesen nicht vorgegeben würde. Sie hat demnach Ähnlichkeit mit der Hypochondrie (s.d.); indeß erscheint sie mehr in besonderen Anfällen (Hysterische Paroxismen), die im höchsten Grade als wirkliche Convulsionen erscheinen u. oft von kaum bemerkbaren Kleinigkeiten herbeigeführt, gemeiniglich schnell vorübergehen. Eine, von dem Unterleibe bis zum Magen u. Schlund aufsteigende Krampfbewegung nennt man aufsteigende Mutter (Mutterstaupe) mit dem Gefühl einer im Halse aufsteigenden Kugel (Globus hystericus). Eben so bekannt ist der, meist eine Stelle auf dem Scheitel, od. am Hinterhaupte einnehmende Hysterische Kopfschmerz (Hysterischer Nagel, Clavus hystericus). Ursachen der H. sind Schwächungen od. Reizungen des schon überhaupt sehr empfänglichen u. im Allgemeinen die H. begünstigenden Nervensystems überhaupt u. desjenigen des Unterleibs u. Geschlechtssystems, besonders durch fehlerhafte Erziehung, sitzende Lebensart, mangelhafte Bewegung des Körpers, Entziehung des Genusses der freien Luft, langes Schlafen, Nachtwachen, Geist u. Gemüth aufregende u. schwächende Beschäftigungen u. Unterhaltungen, Romanlectüre, Leidenschaften, Affecte, als Kummer, Arger, Sorge etc., zu zeitig erwachter, zu heftiger Geschlechtstrieb, Nichtverheirathung, der Wittwenstand, Unfruchtbarkeit, Störungen in dem Geschlechts- u. Unterleibssysteme aller Art, Diätfehler, Genuß schwerverdaulicher, blähender, zu reizender Speisen u. Getränke, des Kaffees, Thees, Erkältungen, Störungen der Gicht, des Rheumatismus, schwächende Ausleerungen etc. Die ärztliche Behandlung bedarf vor Allem der Stütze des festen Vertrauens, indem der Arzt durch geistige u. gemüthliche Macht oft mehr wirkt als durch Arzneien, die häufig nur palliativ nützen, obgleich oft wahrer Arzneihunger statt findet. Zunächst ist eine geregelte, mehr den Körper als Geist beschäftigende thätige Lebensweise, einfache leicht verdauliche, Zeit u. Maß haltende Kost, fleißige Bewegung u. freie Luft erforderlich. Die Reizbarkeit der Nerven ist zu mäßigen u. zu regeln, selten durch Blutentziehungen u. kühlende Mittel, besonders Abführungsmittel, bei Störungen des Geschlechtssystems durch dieses regelnde, bei Unterleibsleiden durch auflösende u. gelind abführende, mit krampfstillenden, bitteren u. tonischen verbundene Mittel, bei mehr rein nervösen Erscheinungen durch Nervenmittel, insbesondere die sogenannten anthysterischen, Asant, Bibergeil, Gummiharze, Baldrian, Chamille, Dippels Öl, das Ammonium u. seine Präparate, ätherische Mittel. In den Anfällen selbst nützen besonders die angegebenen Nervenmittel, Riechmittel, besonders stinkende, wie das Anbrennen u. unter die Nase Halten von Federn; Abführungsmittel, Klystiere, Sinapismen. Bisweilen hilft Verheirathung. Von Mineralwässern nützen nach Umständen bald die auflösenden u. abführenden, wie die Bitterwässer, od. die auflösend stärkenden, später auch die mehr reinen Eisenwässer, od. die vorzüglich auf das Nervensystem wohlthätig einwirkenden Quellen, wie Ems, Gastein, Pfäfers etc. Sehr heilsam erweisen sich auch warme Haus- od. kalte Flußbäder.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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