Salpetersäure

Salpetersäure

Salpetersäure (Acidum nitricum, in verdünntem Zustande Scheidewasser, Aqua fortis), = NO5, die höchste Oxydationsstufe des Stickstoffs, kommt in der Natur häufig, aber immer an Basen gebunden, in den salpetersauern Salzen vor. Stickstoff u. Sauerstoff vereinigen sich direct durch den elektrischen Funken zu S., bes. bei Gegenwart von in Wasser gelösten Basen. Daher findet man im Gewitterregen stets S. u. zwar an Ammoniak gebunden. Noch leichter als freier Stickstoff oxydirt sich der Stickstoff des Ammoniaks zu S., namentlich bei Gegenwart von starken Basen. Leitet man z.B. mit Ammoniak gesättigte Luft bei 100° über Kreide, welche mit Kalilauge befeuchtet ist, so bildet sich nach einigen Tagen salpetersaures Kali; läßt man ammoniakhaltige Luft längere Zeit mit Kalkmilch in Berührung, so entsteht salpetersaurer Kalk. Ebenso bilden sich salpetersaure Salze, wenn organische Körper bei Gegenwart von starken Basen faulen, s. Salpeter 1). Das Salpetersäurehydrat, = NO5HO, wird aus dem salpetersauren Kali (Kalisalpeter) od. salpetersauren Natron (Natronsalpeter) durch Destillation mit Schwefelsäure gewonnen. Man übergießt in einer geräumigen Glasretorte den gut getrockneten, grob gepulverten Salpeter mit dem gleichen Gewicht englischer Schwefelsäure u. destillirt bei Anfangs gelindem, dann verstärktem Feuer; die Destillation muß beendigt werden, wenn sich in der Retorte rothe Dämpfe entwickeln. 5 Pfund Salpeter liefern auf diese Weise gegen 3 Pfund S., welche nur 1 Äquiv. Wasser enthält. War der zur Destillation verwendete Salpeter nicht frei von Chlorverbindungen, so entwickeln sich gleich Anfangs rothe Dämpfe von Untersalpetersäure u. Chlor, u. die übergehende S. ist chlorhaltig; nach einiger Zeit hört indessen die Entwickelung dieser Dämpfe auf; wechselt man alsdann die Vorlage, so erhält man vollkommen chlorfreie S. Aus der so erhaltenen S. kann das reine Hydrat NO5HO durch Destillation mit 5 Theilen concentrirter Schwefelsäure dargestellt werden. Wendet man zur Zersetzung des Salpeters anstatt 2 Äquiv. Schwefelsäure nur 1 Äquiv. an, so erhält man nur die eine Hälfte der S. als Hydrat, bei fortgesetztem Erhitzen entwickelt sich auch die andere Hälfte, wird aber dabei in Untersalpetersäure u. Sauerstoff zerlegt, welche erstere dunkelrothbraune Dämpfe bildet u. von dem Hydrat absorbirt wird. Man erhält auf diese Weise eine tief gelbrothe Säure, die rothe rauchende S. (Acidum nitricum fumans). Man bedient sich zur Darstellung dieser rauchenden S. auch des rauchenden Vitriolöls u. zwar 2 Äquiv. desselben auf 1 Äquiv. Salpeter. Nach Brunner stellt man rauchende S. dar, indem man 100 Theile Salpeter mit 3,5 Theilen Stärkemehl zerreibt u. in einer Retorte mit 100 Theilen englischer Schwefelsäure von 1,85 specifischem Gewicht übergießt; die Destillation beginnt schon ohne Erwärmung, durch sehr gelindes Erwärmen wird sie beendigt. 100 Theile Salpeter liefern 60 Theile vollkommen reine, stark roth gefärbte rauchende S. Die rohe S. des Handels wird in chemischen Fabriken durch Destillation des Salpeters mit Schwefelsäure entweder aus gläsernen Retorten od. aus gußeisernen Cylindern gewonnen; die Dämpfe werden inletzterem Falle durch eine Reihe Woulff'scher Flaschen geleitet, wobei man in den ersten Flaschen die stärkste, aber auch unreinste Säure erhält. Das reine Salpetersäurehydrat enthält in 100 Theilen 85,7 S. u. 14,3 Wasser; es ist eine farblose, stark saure, ätzende Flüssigkeit von 1,54 specifischem Gewicht, welche bei – 40° gefriert, bei 86° siedet; an der Luft raucht es, indem sich der Dampf mit dem Wasserdampf der Luft zu einem wasserreicheren Hydrat verbindet. Am Sonnenlicht zersetzt sich die Säure theilweis, indem sie sich gelb färbt (Untersalpetersäure); beim Destilliren zersetzt sie sich ebenfalls theilweis unter Bildung rother Dämpfe von Untersalpetersäure; leitet man den Dampf durch glühende Röhren, so zerlegt er sich in Sauerstoff, Stickstoff u. Wasserdampf. In dem Maße, als das Salpetersäurehydrat mit Wasser verdünnt wird, vermindert sich das specifische Gewicht. Nur die Säure von 1,72 spec. Gewicht, entsprechend dem Hydrat NO5 + 7HO, hat einen constanten Siedepunkt (123°) u. destillirt unverändert; stärkere sowohl wie schwächere Säuren sieden bei niederen Temperaturen u. verwandeln sich unter fortwährendem Steigen des Siedepunkts bei der Destillation in die Säure von 1,72 spec. Gewicht. Die rothe rauchende S. hat ein spec. Gewicht von 1,5; sie gibt schon bei gelindem Erwärmen rothe Dämpfe von Untersalpetersäure u. läßt sich durch Erwärmen ganz farblos machen. Leitet man in die bis etwa 77° erhitzte Säure atmosphärische Luft, so oxydirt sich die Untersalpetersäure u. man erhält ebenfalls farbloses Hydrat. Bei allmähligem Verdünnen mit Wasser färbt sie sich erst grün, dann blau u. wird endlich farblos. Die rohe S. des Handels hat ungefähr das spec. Gewicht 1,38 bis 1,4; sie enthält stets größere od. geringere Mengen Chlor u. Schwefelsäure, nicht selten auch Salze, die aus Natronsalpeter gewonnene S. Jod u. Jodsäure. Früher glaubte man, daß die S. nur in Verbindung mit Basen od. Wasser existiren könne, aber 1849 gelang es Deville wasserfreie S. herzustellen, indem er salpetersaures Silberoxyd durch vollkommen trockenes Chlorgas zersetzte. Er ließ das in einem gläsernen Gasometer mittelst Schwefelsäure abgesperrte Chlorgas langsam über Chlorcalcium u. dann über Schwefelsäure, sodann über getrocknetes salpetersaures Silberoxyd streichen, welches zuerst auf 95°, dann constant auf 58–60° erwärmt wurde. Die Zersetzungsproducte traten in eine durch Kochsalz u. Eis auf – 21° erkaltete Röhre, in welcher sich neben einer sehr flüchtigen Flüssigkeit Krystalle von[805] wasserfreier S. absetzten. Sie krystallisirt in geraden rhombischen Säulen, deren Winkel 60–120° betragen; sie schmelzen zwischen 29–30°; die hierbei entstehende Flüssigkeit siedet bei 45–50°, wobei sie sich theilweise zersetzt. Bei + 10° ist ihre Tension sehr beträchtlich. In Berührung mit Wasser erhitzt sich die wasserfreie S. sehr stark, löst sich darin ohne Gasentwicklung u. Färbung. Trocknes Ammoniak zersetzt sich sehr schnell; es erscheinen rothe Dämpfe u. ein weißes Salz, welches entweder ganz od. fast ganz aus salpetersaurem Ammoniak besteht. Findet aber der Zutritt der wasserfreien S. zum Ammoniak sehr langsam statt, so verbinden sich beide Körper direct mit einander zu Nitratammon. Die wasserfreie S. besteht in 100 Theilen aus 25,9 Theilen Stickstoff u. 74,1 Theilen Sauerstoff. Dumas fand, daß die wasserfreie S. sich durch starke Erschütterung in Untersalpetersäure u. Sauerstoff zersetze. Die S. ist ein äußerst kräftiges Oxydationsmittel auf nassem Wege; sie gibt dabei 3 Äquiv. Sauerstoff ab u. wird zu Stickstoffoxyd reducirt, welches an der Luft rothe Dämpfe bildet. Mit Basen bildet sie die salpetersauren Salze, s.d. Fast alle Metalle, mit Ausnahme von Gold u. Platin, werden durch S. oxydirt, Zinn u. Antimon in Oxyde verwandelt, die übrigen zu salpetersauren Salzen aufgelöst. Schwefel verwandelt sich durch starke S. in Schwefelsäure, Jod in Jodsäure, Phosphor in Phosphorsäure, letztere zuweilen unter Entzündung u. Explosion. Die meisten Pflanzen- u. Thierstoffe werden durch S. zerstört. Haut, Nägel, Wolle, Seide etc. werden dauernd gelb gefärbt; auf wollenen Kleidungsstücken bewirkt sie unvertilgbare gelbe Flecke. Die Wirkung der S. auf organische Substanzen ist eine sehr verschiedene, sie kann bewirken: a) Oxydation, ohne od. mit Entziehung von Wasserstoff, z.B. Bittermandelöl wird übergeführt in Benzoësäure (C14H6O2 + 2O = C14H6O4), Campher in Camphersäure (C10H8O + 3O = C10H8O4), ohne daß eine Entziehung von Wasserstoff stattfindet. Bei dem Übergange des Alloxantins in Alloxan (C8H5N2O10 u. C8H4N2O10) u. des Indigweiß in Indigblau (C16H6NO2 u. C16H5NO2) findet dagegen Entziehung von Wasserstoff statt. b) Oxydation von Kohlenstoff u. Wasserstoff. In den meisten Fällen wird durch fortgesetzte Einwirkung der S. der größte Theil des Kohlenstoffs u. Wasserstoffs oxydirt, so daß einfachere organische Verbindungen wie Oxalsäure, Essigsäure, Ameisensäure etc. sich bilden. Der Bildung von Oxalsäure geht häufig die Bildung von Schleimsäure u. Zuckersäure voraus. c) Vertretung des Wasserstoffs des organischen Körpers durch Untersalpetersäure. Wenn S. mit Säuren od. mit Kohlenwasserstoffen zusammenkommt, so zersetzt sich die NO5 in NO4 u. O. NO4 tritt an die Stelle von H in der organischen Verbindung, u. es findet Wasserbildung statt; z.B. das Benzol, C12H6, geht über in Nitrobenzol C12H5(NO4), Benzolsäure C14H6O4 in Nitrobenzolsäure, C14H5(NO4)O4. Wendet man anstatt gewöhnliche S. rauchende S. an, so lassen sich 2 Äquiv. H durch 2 Äquiv. NO4 ersetzen, z.B. das Anisol, C14H8O2, geht über in Binitroanisol, C14H6(2 NO4)O2. Benutzt man aber eine Mischung von rauchender S. mit rauchender Schwefelsäure, so werden mehre Äquiv. H durch NO4 ersetzt. Man erhält auf diese Weise aus dem Anisol, C14H8O2, Trinitroanisol, C14H5(3NO4)O2. Alle Nitroverbindungen, welche aus Kohlenwasserstoffen u. aus gewissen sauerstoffhaltigen Körpern entstanden sind, verwandeln sich durch die Einwirkung von Schwefelwasserstoff in organische Basen, so bildet das erwähnte Nitrobenzol die Base Anilin, das Nitroanisol die Base Anisidin. Ist in der ursprünglichen Verbindung mehr als ein Äquiv. H durch NO4 vertreten, so findet sich die übrige Untersalpetersäure in der neuentstandenen Base unverändert wieder, u. es entsteht aus dem Binitroanisol das Nitroanisin, aus dem Trinitöoanisol das Binitroanisidin. d) Spaltung in einfache organische Verbindungen. Die hierbei entstehenden Producte sind verschieden nach der Dauer der Einwirkung u. nach der Concentration der Säure; so bildet die Ölsäure die Säuren: Korksäure, Pimelinsäure, Adipinsäure, Lipinsäure etc.; die Harnsäure Alloxan, Parabansäure, Alloxantin, Dialursäure etc. Die S. kann auf folgende Weise erkannt werden: Mit einer schwefelsauren Indigolösung gekocht entfärbt freie S. die blaue Lösung; ist die S. an eine Base gebunden, so muß man etwas Schwefelsäure zusetzen. Vermischt man eine Flüssigkeit, welche S. frei od. gebunden enthält, mit dem gleichen Volumen concentrirter Schwefelsäure u. gießt nach dem Erkalten eine concentrirte Lösung von Eisenvitriol vorsichtig hinzu, so färbt sich diese braun; bei geringer Menge entsteht an der Berührungsstelle der beiden Flüssigkeiten eine röthliche Färbung. Statt einer Auflösung von Eisenvitriol kann man auch einen Eisenvitriolkrystall in die Flüssigkeit bringen. Die dunkle Färbung rührt von gebildetem Stickstoffoxydgas her, welches mit Eisenvitriol eine braune Verbindung bildet. Reine S. zersetzt Jodkalium nicht, färbt also Jodkaliumkleister nicht blau, sie thut dies jedoch sofort u. noch bei sehr starker Verdünnung, wenn man in die Lösung ein Zinkstäbchen bringt. Salpetersaure Salze auf Kohle erhitzt bewirken ein lebhaftes Verbrennen der Kohle. Man benutzt die S. zum Auflösen von Metallen, zur Darstellung salpetersaurer Salze u. zu vielen andern Zwecken in der Chemie, zum Räuchern in Krankenzimmern, zum Ätzen der Kupferplatten in der Kupferstecherei, ebenso zum Ätzen der Stahl- u. Steinplatten, zum Gelbfärben auf Wolle u. Seide, zur Darstellung der salpetersauren Eisenbeize, zum Füllen der Bunsen'schen elektrischen Batterien, zur Darstellung von Schießbaumwolle etc.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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