- Cretin
Cretin (spr. Kreteng, vom romanischen Cretina, elendes Geschöpf), Name der ursprünglich in Graubündten u. Unterwallis, in neuerer Zeit aber allen von Kindheit an, unter Verkümmerung der körperlichen [523] Entwickelung, an einer eigenen Art von Blödsinn Leidenden beigelegt wird; ihr Zustand Cretinismus (angeborener Blödsinn). Man unterscheidet: a) endemischen angeborenen Blödsinn, Cretinismus im engeren Sinne; u. b) sporadischen angeborenen Blödsinn, Cretinismus sporadicus s. campestris, Idiotismus, Imbecilitas. Der eigentliche Cretinismus zeigt in verschiedenen Abstufungen den allmäligen Übergang vom vernünftigen gefunden Menschen bis hinab zum fast thierähnlichen Krüppel. Die meisten Bewohner jener Gegenden, in denen der C. endemisch herrscht, zeigen Spuren wenigstens einer gewissen Verkümmerung an sich, vorzüglich häufig aber niedrige breite Statur, schlaffen fetten, wenig elastischen Habitus, abgelebte Haut, breite Gesichtszüge, sowie etwas Langsames, Träges u. Gleichgültiges in ihrem Wesen. Zu den häufigsten Erscheinungen der cretinreichen Gegenden gehört der Kropf. Der C. hat etwas Abscheu Erregendes in seinem Äußeren, sein Wachsthum ist zumeist verkümmert, sein Körper klein u. plump; am auffälligsten ist das Mißverhältniß der Knochen; die Haut ist schmutzig gefärbt, fleckig od. blos schlaff dünn u. leicht schwitzend, Kinder frieren leicht; der Kopf, groß, herabhängend, wird bei heftigen Eindrücken wie aus tiefem Schlafe gehoben od. ist durch Muskelcontractur schief gestellt; das Gesicht ist im Verhältniß zum behaarten Schädel größer als gewöhnlich; die vorhängenden u. stark entwickelten Kiefer, schlechtgeformte u. cariöse Zähne geben dem Ansehen etwas Thierisches, die Lippen sind herabhängend, die dicke Zunge wird oft vorgestreckt, das Muskelspiel des Gesichtes ist eigenthümlich, namentlich an den Augenbrauen u. Mundwinkeln; die Augenlider gewulstet, Augen klein geschlitzt; die inneren Augenwinkel stehen tiefer als die äußeren; die Stirn ist gefaltet, herabgezogen; die Nase unförmlich u. verunstaltet, eben so die Ohren häßlich; die Mundgegend zeigt sich häufig durch den Ausfluß des Speichels wund u. geschwürig; der Hals ist zumeist dick od. auch durch Kropf verunstaltet, zuweilen auch häßlich mager u. dünn; die Brust eng, der Bauch dick, die Arme lang, die Beine kurz u. gekrümmt, die Genitalien bald groß, bald verkümmert, die Körperbewegung ist langsam u. schwerfällig; häufig beobachtet man eine thierische Gefräßigkeit. Von den Sinnen ist zumeist der eine bevorzugt, während ein anderer verkümmert ist; Geruch- u. Tastsinn sind gewöhnlich sehr wenig entwickelt; die Stimme ist in ihrer Kraft wenig beeinträchtigt, die Töne aber, welche der C. bei höchster Ausbildung des Übels hervorbringt, gleichen fast nur einem Geschrei od. Gebrüll, in leichteren Fällen od. bei sorgfältiger Erziehung werden die ausgestoßenen Laute menschlicher, articulirter, immer aber behalten sie der großen u. breiten Zunge wegen etwas Lallendes; die Seelenthätigkeiten des C-s sind noch wenig erforscht u. je nach dem Grade des Übels sehr verschieden, bald mangelt ihnen alle Fähigkeit zu unterscheiden, bald haben sie Sinn für Scherz, Gedächtniß namentlich für Orte u. Dinge, die mit dem Magen zusammenhängen, auch von Phantasie zeigen sich Spuren, ja man fand sogar Talente nach gewissen Richtungen hin; bald sind sie so schlaff, daß weder Freude noch Jähzorn an ihnen haften, bald neigen sie sich zu kindischer Ausgelassenheit, eher als noch zu Jähzorn. Im Allgemeinen unterscheidet man drei Gradeim Cretinismus: im ersten haben die Kinder viele richtige Vorstellungen, können einfache Urtheile fällen, sich Begriffe bilden u. aus mehreren Vorstellungen einfache Schlüsse ziehen; im zweiten ist die Sprache undeutlicher, die Kranken deuten ihre Bedürfnisse fast nur durch einzelne Worte an, das Urtheil ist unsicher od. mangelt ganz, ebenso das Vermögen, Schlüsse zu machen; im dritten Grade sprechen die Kranken nicht, weil sie weder Bedürfniß noch Verstand zum Sprechen haben; Gedächtniß u. Einbildungskraft sind äußerst schwach, die Vorstellungen unbestimmt, Urtheil u. Schlußvermögen fehlen. Die bedeutenden Abweichungen der Gliedmaßen hat Kern durch Messungen nachgewiesen u. Virchow die beträchtlichen Verunstaltungen des Cretinenschädels. Indem das Wachsthum der Schädelknochen nur an einer Naht geschieht, während im normalen Zustande sich der Schädelknochen dadurch nach allen Seiten hin vergrößert, daß nach allen Seiten hin sich Knochenmasse anlegt, entstehen die verschiedensten Difformitäten, als der schiefverengte Schädel (Schädelscoliose), der querverengte in der verschiedensten Weise u. der längsverengte (kurze). Immer ist die Folge dieser Schädelverkümmerung Beengung des Raumes für die Hirnmasse, sowie bei Macrocephalie (Wasserkopf) Beengung durch Wasseranhäufung. Über die Ursachen des Cretinismus hat man in neuerer Zeit lebhaften Streit geführt; schwerlich ist der Cretinismus aus einer einzigen Ursache herzuleiten sondern vielmehr von dem gleichzeitigen Einfluß der ganzen Örtlichkeit u. Umgebung auf die Bevölkerung einer Gegend. Die ungünstigen klimatischen u. socialen Verhältnisse wie sie sich namentlich in tieferen feuchten, mit Luft u. Licht wenig versorgten Thälern, bei großer Armuth, schlechten Nahrungsmitteln, niedrigem Culturzustande der Einwohner zusammenfinden, setzen allmälig die Ernährung u. geistige Entwickelung der Bevölkerung, wenn diese sich zumal nur durch sich selbst regenerirt, von Generation zu Generation so herab, daß sich im Laufe der Zeit bei einzelnen Individuen in der Fötalperiode Bildungshemmungen zeigen, welche, da sie vorzugsweise Schädel u. Hirn treffen, einen Mangel der geistigen Thätigkeit zur Folge haben. Die geognostischen Verhältnisse, auch die Tiefe u. Höhe des Wohnortes wirken mit, z.B. auf den Norischen Alpen hat man den Cretinismus nicht über 3400 Fuß u. nicht unter 1300 Fuß über der Meeresfläche gefunden; von größter Bedeutung ist die Lage der Wohnplätze in engen, sumpfigen Thalschluchten; ja zuweilen ist in einem ganzen Dorfe nur ein einziges Haus die Pflanzstätte des Cretinismus. Ein höchst wichtiges Moment ist die Erblichkeit, sogar in Springen über Generationen tritt er auf u. seltener sind die erstgeborenen, als die nachfolgenden Kinder davon betroffen. In manchen Gegenden wirkt die unzweckmäßige Pflege des Kindes (Mißbrauch von Opium u. Branntwein), die durch schlechte Schulen u. Absperrung vom Verkehr niedergehaltene Civilisation der ganzen Bevölkerung dazu. Einzelne Fälle von Cretinismus werden durch mancherlei Gelegenheitsursachen bedingt, zumal durch gewisse Krankheiten während der Schwangerschaft (Apoplexie, Hirnentzündung), heftige Gemüthsaffecte u. mechanische Verletzung der Frucht, zumal wenn sie den Schädel des Fötus betreffen. Scrophulose u. Rhachitis stehen mit Cretinismus in Verwandtschaft.[524] Die Heilung od. vielmehr Besserung des Cretinismus kann nur da von Erfolg sein, wo die Gehirnarmnuth nicht eine allgemeine ist. Die Kur kann sein prophylaktisch, medicinisch, diätetisch u. pädagogisch. Die Hauptaufgabe ist natürlich Beseitigung der Ursachen. Die medicinische Behandlung benutzt vorzüglich die Mittel gegen Scropheln u. Rhachitis; prophylactisch wird man in cretineureichen Gegenden für Einrichtung besonderer Schulen zu sorgen haben, für gymnastische Übungen, ländliche Beschäftigung, heitere Volksfeste, Verkehr mit den Anwohnern der Nachbargegend, Gesetze gegen das Verheirathen der Cretinen unter einander, Nichtbenutzung von Cretinenammen, Sorge für gutes Trinkwasser, Beschaffung ordentlicher Nahrung, Verbesserung der Wohnung, Lüftung der Thäler, Austrocknung von Sümpfen, Lichtung der Wälder. – Bis gegen Ende des 18. Jahrh. blieb der Cretinismus fast ganz unbeachtet. Erst Horace Benoit de Saussure befaßte sich auf seinen Alpenreisen mit der Beobachtung der Cretinen, die man indeß bis 1840 für unheilbar hielt. Die ersten Versuche, das Übel zu mildern u. ihm vorzubeugen, machte der schweizerische Arzt Guggenbühl (s.d.), welcher 1842 eine Heilanstalt auf dem Abendberge im Canton Bern gründete. Die praktischen Erfolge, welche er erzielte, führten zur Gründung ähnlicher Anstalten, so in Württemberg, wo 1847 das Kloster Mariazell zu diesem Zwecke eingerichtet wurde, in der preußischen Rheinprovinz, in Baden (Kloster Bürgelen), in Baiern (Ecksberg 1852 angelegt), in England, wo namentlich Lord Ashley, William Twining, Dr. Conolly u. die Herzogin von Sutherland für die Errichtung von Heilanstalten thätig waren. In Sardinien wurde ein Cretinenhospiz auf einer Höhe im Val d'Aosta angelegt. Auch in Frankreich sind sen 1852 von der Regierung Maßregeln getroffen worden, um dem Übel Abhülfe zu verschaffen. Im Jahr 1856 erließ die k. k. Gesellschaft der Ärzte in Wien ein Gesuch an das Ministerium des Innern zur Errichtung von Anstalten für Cretinen im österreichischen Kaiserstaate, wo sich allein in Steyermark bei 6000 finden, nach dem Muster von Guggenbühl's Anstalt. Genauere statistische Untersuchungen über die Verbreitung des Cretinismus existiren bis jetzt nur über einige Länder u. Districte. In Württemberg gibt es etwa 5000 mehr od. weniger mit dem Cretinismus behaftete Familien, in Unterfranken zählt man 1 C. auf 4350 Einwohner, noch intensiver ist das Übel im baierischen Hochlande u. in Steyermark, wo 1 C. auf 230 Einw. kommt. In Savoyen ist die Zahl der Cretinen auf etwa 10,000 anzuschlagen. – Vgl. Fodèré, Über den Kropf u. den Cretinismus (deutsch von Lindemann), Berl. 1796; Ackermann, Über die Cretinen, Gotha 1790; Iphofen, Der Cretinismus, Dresd. 1817; Troxler, Der Cretinismus etc., Zürich 1836; Demme, Über endemischen Cretinismus, Bern 1840; Buek, Vortrag über den Cretinismus etc., Hamb. 1842; Thieme, Der Cretinismus, Weimar 1842; Rösch, Die Stiftung für Cretinkinder auf dem Abendberge, Stuttg. 1842; Guggenbühl, L'Abendberg, franz. von Berchthold (Beaupré, Freib. 1844); Derselbe, Raccolta di relazioni, lettere ed articoli diversi concernenti lo stabilimento dell' Abendberg. Genua 1854; Maffei, v. Rösch, Neue Untersuchungen über den Cretinismus, Erl. 1844, 2 Bde.; Wells Upon Cretinism and goitre, Lond. 1845; Stahl, Beitrag zur Geschichte des Idiotismus, endemisch in Unterfranken, Bonn 1846; Kern, Die pädagogisch-diätetische Behandlung Schwach- u. Blödsinniger, Lpz. 1847; Helferich, Das Leben der Cretinen, Stuttg. 1850; Rösch, Beobachtungen über den Cretinismus, Zürich 1851; Ferrus, Mémoire sur le goitre et le crétinisme. Par. 1861; Stahl, Neue Physiogn. u. path. Anat. der Idiota endem., Erl. 1851; Guggenbühl, Die Heilung u. Verhütung des Cretinismus, Bern u. St. Gallen 1853; Froriep, Die Rettung der Cretinen, Bern 1856; Scoutetten, Une visite a l'Abendberg, ebd. 1857.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.