- Saint-Simonismus
Saint-Simonismus, seit 1825 in Paris entstandene religiös-moralisch-politische Secte. Als der Graf Saint-Simon (s.d. 3) verarmt u. krank lange darnieder lag, bildete er die Ideen, welche er theilweise schon in seinem Organisateur ausgesprochen hatte, weiter aus u. theilte die Resultate seines Nachdenkens einem Freunde, Olinde Rodriguez, mit, welcher sie unter anderen Bekannten erfolgreich verbreitete. St. Simon selbst erkannte die Göttlichkeit des Christenthums an, nur die christliche Theologie nannte er eine menschliche, mit Irrthümern geschwängerte u. einer gänzlichen Reform bedürfende Wissenschaft. Der Grundtypus des Christenthums war ihm dessen stete Hinweisung auf die Liebe des Nächsten u. die allgemeine Verbindung des Eine Familie bildenden menschlichen Geschlechtes, daher sollte das neue Christenthum alle christlichen Religionsparteien in Eine Heerde vereinigen, welche Einer Moral, Einem Cultus, Einem Dogma huldigten u. deren letztes Ziel die schnellste u. vollkommenste Verbesserung des Wohles der bürgerlichen Gesellschaft wäre. Seine Anhänger traten 1827 zu einer Secte zusammen, deren Lehre bes. Enfantin ausbildete u. predigte. Darnach ist die Industrie das große umschlingende Band, vermittelst dessen die Religion zur Herrschaft über die Erde gelangt u. sich die Eine große Weltfamilie constituirt, wo schon auf der Erde die Liebe Alles eint u. Jedem vergolten wird nach seinen Werken. Sein Religionssystem ist ein naturalistischer Pantheismus; der Mensch ist von Natur gut geschaffen, Sünde ist blos die dem Menschen oft beiwohnende unbezwingliche Neigung dem Gesetz entgegen zu handeln, aber der wahrhaft religiöse Mensch fühlt nur den Zwang zu thun, was er liebt. Die schönen Künste sind das verkörperte religiöse Gefühl, sie geben der aus dem Dogma entwickelten Wissenschaft das Leben; die Wissenschaft wieder verwirklicht sich in der Industrie; die Industrie ist die Weltcultur im allgemeinsten Sinne; die Cultur endlich ist die menschliche Form des Cultus. Religion u. schöne Künste enthalten das Gefühl des Schönen, Dogma u. Wissenschaft sind die Erfassung des Wahren, Cultus[770] u. Industrie die Verwirklichung des Nützlichen. Die Zeit des Cultus u. der Industrie ist unsere Zeit; in ihr legte Gott die letzte Hand an sein Werk; einen christlichen Clerus gibt es nicht mehr. Das wahre u. einzige Moralprincip, welches Gott seiner Kirche gegeben, ist: alle Menschen sind Brüder u. als Brüder zu handeln verpflichtet. Darum lautet der Lehrsatz des St. S.: die ganze menschliche Gesellschaft soll auf die Verbesserung des moralischen u. des physischen Zustandes der ärmsten Klasse hinarbeiten u. muß demgemäß organisirt werden dieses Ziel auf die einfachste u. schnellste Weise zu erreichen. Nach dem Maße seiner Fähigkeit, Tüchtigkeit u. seines Verdienstes wird sich in Zukunft jedes Einzelnen Bildung, Arbeit u. Genuß bestimmen; das Weib tritt in vollem Sinne neben dem Manne ein, denn das gesellschaftliche Individuum ist nicht mehr der Mann allein, sondern Mann u. Weib; jede Function wird von einem Paare verrichtet. Der Reiche entäußert sich seines Besitzes, denselben der Gesellschaft überlassend, u. der Arme wird Mitbesitzer u. Genosse der gemeinschaftlichen Arbeit, wie des gemeinschaftlichen Gewinnes. Zwischen den Menschen von vorwaltend intellectueller u. materieller Kraft, welche sie durch Anlage der Bildung erhalten haben, stehen vermittelnd die Menschen der Liebe, eine Art Priester, welche die Wissenschaft zu ehren u. die Industrie zu würdigen wissen u. die natürlichen Vertreter u. Organe Gottes in der Menschenwelt sind. Darnach ist die reine St. Simonistische gesellschaftliche Ordnung im Grundriß folgende: A) Alle Privilegien in Absicht auf Stand, Erziehung, Bildung u. Eigenthum sind aufgehoben; das Eigenthum, folglich auch das Erbe aller gesellschaftlichen Vortheile, geht von dem Individuum auf dieganze Gesellschaft über. Die St. Simonisten wollten keine Gemeinschaft der Güter, wohl aber eine gleichmäßige Vertheilung derselben unter alle Menschen. B) An die Stelle der Geburtsvorzüge tritt die gesellschaftliche Vorsehung od. vielmehr deren Organe, nämlich die Menschen der Liebe, welche ohne alle Rücksicht auf äußere irdische Verhältnisse die Erziehung nach den individuellen Anlagen leiten u. nach deren Vollendung Allen ihren Platz u. Beruf in der gesellschaftlichen Ordnung nach dem Grade ihrer Tüchtigkeit anweisen. Einen Anspruch auf Eigenthum begründen nur Arbeitsfähigkeit u. Arbeit; die Eigenthümer werden zu Verwaltern der ihnen anvertrauten Gesellschaftsgüter, u. ihr Eigenthum erhält die Natur eines Gehaltes, dessen Zahlung mit des Arbeiters Tode erlischt. Steuern u. Auflagen finden nicht Statt; Jeder empfängt den Lohn seiner Arbeit, u. die Leistungen der Gelehrten u. Priester werden dabei weder höher noch geringer geachtet, als die der Industriellen. C) Hinsichtlich des inneren Organismus findet folgende Ordnung Statt: a) die Ordnung der Gelehrten: ihre Aufgabe ist die Zwecke, Gesetze u. den Zusammenhang aller Erscheinungen der Natur u. des Menschenlebens zu erforschen u. sodann die gewonnenen Erkenntnisse zu verbreiten; der Gegenstand ihres Studiums ist das All, das All aber ist Gott, darum heißen sie Gottesgelehrte od. Theologen. b) Die Ordnung der Industriellen: ihre Aufgabe ist Verbesserung des physischen Zustandes, Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, Mehrung des Reichthums u. der Gesundheit durch Benutzung u. Verschönerung des Erdballes. Die Neigung, Kräfte u. Fähigkeit bemessen die Bestimmung der Individuen für Ackerbau, Bergbau, Forstwesen, Gewerbe, Handel etc. Alle Vorräthe u. gewonnene Reichthümer fallen in einen allgemeinen Productionsfond, denn alles, selbst Werkstätten u. Wohnungen, sind sociales Eigenthum; aus diesem Fond empfängt jeder, nach Bestimmung der Oberen u. seinen Fähigkeiten u. Leistungen angemessen, die Instrumente der Arbeit u. Lohn. Die oberste Verwaltungsbehörde dieser Ordnung heißt Centralbank, unter welcher wiederum Specialbanken für Provinzen u. Localbanken für Districte, Städte u. Dörfer stehen. c) Die Ordnung der Priester vermittelt die gesellschaftliche Verbindung der gelehrten u. industriellen Ordnung. Die Liebe des Priesters nimmt die Ergebnisse der Wissenschaft auf, bietet sie den Industriellen zur Verwirklichung dar u. führt so das Geschlecht in stetem Fortschritt seinem Ziele zu. Darum stehen sie auch an der Spitze aller Ordnungen der Gesellschaft. An der Spitze der Ordnung der Gelehrten steht der Priester der Wissenschaft (Vater des Dogma), als Leiter aller wissenschaftlichen Bestrebungen, welcher nach Bedürfniß von Zeit u. Ort auf die Lücken u. Gebrechen einzelner Zweige hinweist, einseitigen Richtungen begegnet, die Streitigkeiten schlichtet u. die Wortführer der verschiedenen Systeme zu einem edeln Wetteifer entflammt, welcher allein die Wissenschaft fördert. An der Spitze der Ordnung der Industriellen steht der Priester (Vater des Cultus). Er sorgt für die Verwaltung der Centralbank u. für die zweckmäßige u. gerechte Vertheilung der Arbeitsmittel u. des Arbeitslohnes, so wie für gleichmäßiges Fortschreiten der Praxis der Industriellen mit der Theorie der Gelehrten. An der Spitze der ganzen Ordnung der Priester od. Regierenden steht der oberste Vater od. Papst, welcher alle Fäden zur Leitung der menschlichen Gesellschaft in seiner Hand hat. Sein Regierungscollegium bilden außer den beigeordneten Vorstehern des Dogma u. des Cultus die übrigen Priester, welche an den verschiedenen Orten, wo er sie hinstellt, auf den verschiedenen hierarchischen Stufen seine Organe bilden. D) Um nun die Begründung, Erhaltung u. Fortbildung des St. S. zu realisiren, gibt es zwei Mittel: Erziehung u. Gesetzgebung. a) Die specielle Erziehung richtet sich nach Neigung u. Anlagen. Nach einer allgemeinen Vorbildung werden die Individuen in Schulen vertheilt u. zu dem besonderen Berufe vorbereitet, für welchen sie die Natur bestimmt zu haben scheint. Die allgemeine Erziehung ist das Princip, welches unablässig fortbildet u. die Bekenner des St. S. in der Begeisterung für die Gesellschaft u. ihre Zwecke stärkt u. erhält. Die Mittel dazu sind: Predigt, Beichte (Unterricht) u. Communion. Die Predigt besteht in gemeinschaftlichen Vorträgen u. Auslegungen der Vorschriften St. Simons in größeren gemischten Versammlungen; die Beichte ist der vertraute, den individuellen Kräften u. Bedürfnissen angemessene Unterricht, welcher bes. in Conferenzen u. Disputationen ertheilt wird; die Communion ist der gemeinschaftliche gesellschaftliche Gottesdienst der wirklichen Mitglieder, wo Macht der Rede, Gesang u. Musik, Ritus u. schöne Formen aller Art die Theilnehmenden die wirkliche Gegenwart Gottes empfinden lassen u. Harmonie der Gedanken, Gefühle u. Bestrebungen hervorbringen sollen. b) Die Gesetzgebung dient zur Ergänzung der Erziehung; sie ist die Erklärung des obersten Priesters an seine [771] Untergebenen über deren Aufgabe, verbunden mit Verheißungen u. Androhungen. Ein vorzügliches Gewicht legte der St. S. auf den Reiz der Kunst; dieselbe sollte sich auch in drei Hauptformen darstellen, welche sich auf Dogma, Cultus u. Religion bezögen. In Bezug auf Dogma als Poesie, Gesang u. Musik; in Bezug auf Cultus als Malerei, Bildhauerei u. Baukunst; in Bezug auf Religion durch Redekunst, Ritus, Schauspiel. Enfantin hatte als Priester der Wissenschaft Bazard, als Priester des Cultus Olinde Rodriguez zur Seite.
Anfangs wählten die St. Simonisten zu ihren Versammlungen ein Landhaus in Menilmontant, südwestlich von Paris, u. bildeten hier für die eifrigeren Jünger ein Kloster, für die Anderen eine Kirche, welche zugleich Salon zu Besprechungen u. geselligen Umgang war. Dennoch blieb der St. S. mehre Jahre in Paris unbeachtet, bis die Julirevolution 1830 ihn bekannter machte. Erst da gingen die St. Simonisten weiter, sie nahmen den Globe als Journal de la doctrine de St. Simon zu ihrem Organ u. schickten Emissäre in die Provinzen, bes. nach Lyon, aus, um die arbeitende Klasse durch ihren Grundsatz, daß eine Vertheilung des Eigenthums nach der Würdigkeit einzuführen sei, zu gewinnen. Aber bereits im Sommer 1831 zerfielen die Priester der St. Simonisten unter sich; Enfantin huldigte nämlich dem Mysticismus immer mehr u. klagte daher den mehr nach dem Wissenschaftlichen strebenden Bazard an, wollte denselben als Mann der Vernunft ganz unter sich als Mann des Gefühles ordnen u. verkündete, daß Bazard sich in die Einsamkeit zurückziehen werde. Bazard u. seine Partei protestirten dagegen, u. eine beträchtliche Menge der St. Simonisten schied aus der Gesellschaft aus. Später starb Bazard, u. Enfantin stellte nun, in dem St. S. allein herrschend, ganz neue Sätze auf, welche von den bisherigen Ideen bedeutend abwichen u. einen potenzirten St. S. darstellten. Wie das Universum in Gott ein Oberhaupt habe, so müsse auch die sichtbare Welt ein geistiges Oberhaupt haben, welches zu der Welt in dem Verhältnisse des Vaters zu seinen Kindern stehe. Dieses geistige Oberhaupt sei er selbst. Es werde auch bald eine Offenbarungsfrau (Femme révélatrice) erscheinen, die Stelle neben ihm einnehmen u. als Päpstin seine Offenbarung bestätigen. Allein trotz der erlassenen Aufrufe an alle St. Simonisten zeigte sich keine solche Frau. Ferner stellte Enfantin ganz neue, den jetzigen schnurstracks widerstrebende Ansichten über Liebe u. Ehe auf, es gäbe nämlich zwei Klassen Individuen, unbewegliche (beständige) u. lebendige (vorübergehende). Für erstere sei die bisherige Ehe gewesen, für die letztere solle die neue St. Simonistische Einrichtung der Polygamie, sowohl für Männer als für Frauen, gelten u. wie bisher im Christenthum in der Beichte eine geistige Gemeinschaft zwischen dem Priester u. dem Beichtkinde Statt gefunden habe, so müsse es jetzt eine körperliche Vermischung zwischen den St. Simonistischen Priestern u. den Beichtkindern geben u. alle Frauen der St. Simonistischen Lehre daher ihm als Papste zu Gebote stehen. Noch mehr beschloß Enfantin zu Anfang 1832 seine Lehre auszubreiten; er verlegte sein Kloster nach Paris selbst u. ließ auch Nicht-St. Simonisten zu den Versammlungen zu, ja die eigenthümlich, in halb armenischem, halb altdeutschem Costüme gekleideten Priester der St Simonisten zeigten sich öffentlich in dieser Tracht auf den Straßen. Wirklich wurde der Beifall der St. Simonisten, bes. in den mittleren Klassen immer größer u. die Proselyten immer zahlreicher. Die Regierung fühlte sich aber im Sept. 1832 durch den Antheil, welchen die St. Simonisten an den Unruhen in Lyon durch Predigten ihrer Lehre von der Vertheilung der Güter nach Würdigkeit gehabt hatten, bewogen an den Tagen, wo die Säle dem größeren Publicum geöffnet waren, den Neugierigen durch aufgestellte Polizeidiener den Zutritt zu versagen. Später wurde Enfantin, Olinde Rodriguez u. einige Vorsteher vor Gericht gefordert u. zu mehrmonatlicher Gefängniß- u. hoher Geldstrafe verurtheilt. Nach ihrer Freilassung zerstreuten sich die Häupter der St. Simonisten in alle Welt, Enfantin ging nach Afrika, M. Chevalier nach Nordamerika, u. der St. S. zerfiel nun, seiner Häupter beraubt, in sich selbst, od. ging in Secten, wie die Fourieristen u. dgl., über. Vgl. Doctrine de St. Simon, 3. A. 1831; Exposition de la doctrine, 1832, 3. Aufl.; Lechevalier, Religion Saint-Simonienne, 1828–30, 2 Bde.; Religion St. Simonienne; Carové, Der St. S., Lpz. 1831; Bretschneider, Der St. S. u. das Christenthum, 1832; Veit, St. Simon u. die St. Simonisten, Lpz. 1834; Reybaud, Etudes sur les réformateurs, Par. 1841, 2 Bde.; Stein, Der Socialismus u. Communismus, Lpz. 1842.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.