Volkspoesie

Volkspoesie

Volkspoesie, bezeichnet im Gegensatze zur Kunstpoesie die Gesammtheit derjenigen dichterischen Erzeugnisse einer Nation, welche ohne beabsichtigte Kunstwirkung u. ästhetische Reflexion entstanden, für das ganze Volk der poetische Ausdruck seines Glaubens, seiner Geschichte u. seiner Gefühlsweise, der Spiegel seines äußeren u. inneren Lebens sind. Gleichwohl ist die Vorstellung, daß die Erzeugnisse der V. ihren Ursprung nicht dem poetischen Vermögen einzelner Individuen, sondern dem des ganzen Volks verdanken, eben so unklar als unhaltbar; kein einzelnes dichterisches Erzeugniß kann als Product einer ganzen Menschenmasse angesehen werden, sondern immer werden es Einzelne gewesen sein, welche die in dem Bewußtsein des Volks bereit liegenden Stoffe dichterisch gestaltet haben. Aber eben diese Stoffe, welche der Volkssänger aus der Geschichte u. dem Leben seines Volks herausgreift, erscheinen um so mehr als etwas dem ganzen Volke Angehöriges, als sie in der dichterischen[660] Form, welche der Volksdichter ihnen aufprägt, auch auf das Bewußtsein des Volks zurückwirken. Indem sich das Volksgedicht ursprünglich durch mündliche Tradition verbreitet u. fortpflanzt, erlischt dabei die Erinnerung an den ersten Urheber; es wird überdies mannigfaltig umgebildet, verändert, abgeschliffen od. erweitert u. ergänzt, u. nimmt so die Bedeutung eines von der Beziehung auf bestimmte Personen unabhängigen Naturproducts an, über dessen Entstehung das Volk sich so wenig Rechenschaft gibt, als über den Ursprung seiner Sprache u. seiner Sitte. Gegenstand der V. können, so lange die Glieder eines Volks noch eine vorherrschend homogene geistige Bildung haben u. sich in dem Kreise gleichen Glaubens, gleicher historischer Erinnerungen u. Lebensgewohnheiten bewegen, nur solche Stoffe sein, welche mit dem Leben des ganzen Volks, seiner Geschichte, seinen Thaten, seinen Geschäften u. Festen, seinen Leiden u. Freuden verwachsen sind u. ein Stück des wirklichen lebendigen Volkslebens enthalten. Dabei tritt der Ausdruck der subjectiven Empfindung lange Zeit zurück hinter die objective Darstellung der Schicksale u. Thaten eines Volks u. die epische V. ist überall älter als die lyrische. Das Volksepos ist die dichterische Gestaltung der Sagen von den Ursprüngen u. den Thaten eines Volks, zunächst also der Göttern. Heldensage. Die Entstehung der großen Volksepen, wie z.B. der homerischen Gedichte u. des Nibelungenliedes, verliert sich, wie der Sagenkreis eines Volks selbst, in ein geheimnißvolles Dunkel; ihr Inhalt u. ihr Bau weißt auf eine Mehrheit einzelner Lieder, welche, einem od. mehren Sagenkreisen angehörend, durch Rhapsoden u. fahrende Sänger bei Festen u. Versammlungen, an den Sitzen der Herren u. in dem Kreise des Volks durch eine, Art recitativischen Vortrags unter einfacher musikalischer Begleitung fortgepflanzt u. verbreitet wurden, ehe sie zu einem Ganzen verschmolzen wurden. Obwohl nun bei weitem nicht alle Völker ein so großes nationales Epos haben, wie die Griechen u. die Deutschen, findet sich doch bei allen poetisch begabten Völkern ein reicher Schatz epischer V-n in kleineren Dimensionen, Lieder u. Gesänge (Balladen u. Romanzen), welche sich auf einzelne merkwürdige u. ergreifende Begebenheiten u. Thaten beziehen u. dieselbe in der Erinnerung des Volks festhalten. Auch die Darstellungen alter Sagen u. Geschichten in den sogen. Volksbüchern (s.d.), so wie die oft mit dem religiösen Glauben zusammenhängenden Volksmärchen gehören der epischen V. an, während das Thierepos (Reineke Fuchs etc.) schon eine Richtung auf didaktische Zwecke verräth. Die lyrischen Erzeugnisse der V. sind die Volkslieder im engeren Sinne, d.h. solche Lieder, welche lange Zeit, oft Jahrhunderte hindurch in dem Munde des Volks wirklich gelebt haben u. zum Theil noch leben. Eine solche tatsächlich über weite Räume u. durch lange Zeiten sich erstreckende Verbreitung eines Liedes ist nicht noch wendig ein Zeugniß seiner dichterischen Vortrefflichkeit; vielmehr ist das eigentliche Volkslied immer an die Schranken des Verständnisses u. der Empfindungsweise des Volks gebunden; aber so wie viele Volkslieder sich durch eine gesunde Frische, Innigkeit der Empfindung, oft auch durch Witz u. Humor auszeichnen, so ist die Kenntniß der zu einer bestimmten Zeit verbreiteten Volkslieder immer ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der geistigen Cultur, weil kein Lied ein wirkliches Volkslied werden, kann, wenn es nicht dem Bedürfnisse, der Gefühlsweise u. der Fassungskraft des Volks entspricht. Die Blüthe des Volksliedes (welches man sich ursprünglich immer in Begleitung der dazu gehörigen Melodie zu denken hat) tritt meistentheils erst dann ein, wenn die epische Volksdichtung im Absterben begriffen ist. In Deutschland trat es, obwohl schon im 9. Jahrh. gesellschaftliche Fest- u. Spottlieder verbreitet waren, erst seit dem 13. u. 14. Jahrh. bedeutender hervor; seine Träger waren die Fahrenden Leute, Benkelsänger, zu denen bisweilen auch Geistliche u. Adelige gehörten, welche von Ort zu Ort zogen u. eigene od. fremde Lieder dem Volke vorsangen, welches sich dieselben dann auf seine Weise mundgerecht machte. Eine der ältesten Quellen über diesen Volksgesang, die Limburger Chronik, erwähnt als Erfinder einer Anzahl um 1370 aufgekommener Volkslieder einen seinem Namen nach nicht bezeichneten aussätzigen Barfüßermönch. Eine nicht geringe Anzahl solcher Lieder wurde im 14. u. 15. Jahrh. in der Gestalt, welche sie damals angenommen hatten, aufgeschrieben; später, gegen Ende des 13. u. seit Anfang des 16. Jahrh., wurden viele derselben auf eigenen Blättern u. Bogen (Fliegenden Blättern) gedruckt; eine Form ihrer Verbreitung, welche sich, gewöhnlich mit dem Zusätze »gedruckt in diesem Jahr,« bis in die neuesten Zeiten im Volksverkehr auf Jahrmärkten etc. erhalten hat. Seit dem 11. Jahrh. waren neben den weltlichen Volksliedern auch geistliche in Umlauf gekommen, welche man nicht beim Gottesdienste, wohl aber bei Wallfahrten, Processionen etc. sang; um ihnen Eingang zu verschaffen, benutzte man bisweilen weltliche Melodien, denen man geistliche Texte unterlegte; nach der Reformation entwickelte sich daraus das protestantische Kirchenlied. Seit dem Zeitalter der Reformation trat allmälig eine veränderte Gliederung der Volksmasse ein; die einzelnen Kreise der Gesellschaft fangen an sich bestimmter gegen einander abzuschließen; der Bürgerstand gliedert sich in besonderen Gruppen u. Kreisen. Das Volkslied verliert daher seinen allgemeinen Charakter, es hört auf Gemeingut des ganzen Volks zu fein; es entstehen nun die Lieder für besondere Lebenslagen, Geschäfte u. Verhältnisse, so die Lieder für Landsknechte u. Soldaten, Handwerksburschen, Studenten, Jäger, Reiter, die Zunft u. Ehrenlieder der einzelnen Handwerker, die Tanz- u. Kinderlieder, die Wander- u. Trinklieder, die Gesellschaftslieder. Nur in Gegenden, welche von der neuen Culturströmung weniger berührt wurden, wie in Gebirgen, erhielt sich der alte Volksgesang; dort haben Sammler bisweilen noch Lieder aus weit entlegener Zeit im Munde des Volks lebendig gefunden Auch von neueren Dichtern, z.B. unter den Deutschen von Hölty, Bürger, Claudius, Arndt, Körner, Uhland, Hebel, Hoffmann von Fallersleben etc. ist manches Lied gedichtet worden, welches tief in die Schichten des Volks eingedrungen auf den Namen eines Volksliedes sehr wohl Anspruch machen kann. Um die Würdigung der V. überhaupt u. der in ihr enthaltenen Schätze hat, nachdem in England Percy auf sie hingewiesen hatte, in Deutschland namentlich J.G. Herder die größten Verdienste; der von Nicolai in seiner Sammlung: feyner kleyner Almanach vol schöner echterr liblicherr Volkslieder (Berl. 1778, 2 Bde.), ihr zugedachte Spott beeinträchtigte[661] das dafür erwachte Interesse keineswegs; die Romantische Schule gerieth sogar in Gefahr ihren Werth zu überschätzen; durch die Gebrüder Grimm, Uhland u.a. ist sie zum Gegenstände gründlicher historischer Studien gemacht worden, so daß sich über sie eine sehr zahlreiche Literatur gebildet hat. Vgl. Talvj (Jacobi-Robinson), Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder der germanischen Nationen, Lpz. 1840; J. G. Herder, Stimmen der Völker in Liedern, 1778 f., 2 Bde.; Büsching u. von der Hagen, Sammlung deutscher Volkslieder (mit Melodien), Berl. 1807; Brentano u. Arnim, Des Knaben Wunderhorn, Heidelb. 1806–8, 3 Bde., 3. Aufl. Berl, 1846–54; Uhland, Alte hoch- u. niederdeutsche Volkslieder, Stuttg. u. Tüb. 1844–45, 2 Bde.; Erk, Auswahl der vorzüglichsten deutschen Volkslieder mit ihren Melodien, Berl. 1833; Hoffmann v. Fallersleben, Die deutschen Gesellschaftslieder des 16. u. 17. Jahrh., Lpz. 1844; Sammlungen historischer Volkslieder von Wolfs, Stuttg. u. Tüb. 1830; Rochholz, Bern 1835, u. Aufl. 1842, Soltau, Lpz. 1836, Körner, Stuttg. 1840. Volkslieder einzelner Provinzen in deren Mundarten enthalten: Meinert, Alte deutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens, Wien 1817; E, Richter, Schlesische Volkslieder mit Melodien, Lpz. 1842. Für England, Schottland u. Irland vgl. Percy, Reliques of ancient English poetry, 1763, u. Ausg. Lond. 1812, 3 Bde.; Ritson, English metrical romances, Lond. 1802, 2 Bde.; Evans, Old Ballads, ebd. 1810, 4 Bde.; Ellis, Specimens of early English metrical romances, ebd. 1811, 3 Bde.; Walker, Memoirs of the Irish bards, ebd. 1786; Miß Brooke, Reliquie of Irish poetry, Dubl. 1789, u. Aufl. 1816; Hardiman, Irish minstrelsy, ebd. 1831, 2 Bde. Für die V. der Spanier vgl. Duran, Romancero general, Madrid 1828–32, 5 Bde., 2. Ausg. ebd. 1849–51, 2 Bde.'.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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